Im Tal des Schneeleoparden
ehrlich zu sein, ich weiß nicht einmal, was ein Mungo ist.«
»Ein kleines Raubtier, das Ratten und Schlangen frisst«, warf Ingrids Mann ein. Im Gegensatz zu allen anderen Familienmitgliedern redete er nur wenig. Kaushik war der Ruhepol der Familie, und Anna hatte seine bedächtige Art sofort gemocht.
Die Familie war auch in einer weiteren Hinsicht bemerkenswert, da niemand irgendeinem anderen wirklich ähnlich sah. Lediglich Rikki-Tikki mit ihrem runden, dunklen Gesicht und auffällig weitstehenden Augen schlug nach ihrem Vater, während der hellhäutigere Kim beinahe als hager zu bezeichnen war. Einzig bei der siebzehnjährigen Laksmi entfalteten sich Ingrids europäische Gene: Laksmi hatte sowohl die robuste Figur als auch die Locken ihrer Mutter geerbt, allerdings in Braun, und auch Ingrids unbändige Lebensfreude schien auf sie übergesprungen zu sein.
Nach dem Abendessen zerstreuten sich die Familienmitglieder in alle Richtungen. Rikki-Tikki hatte eine Verabredung mit der Nachbarstochter, Kim wollte einige Reparaturen in den Gästezimmern erledigen, und Kaushik und Laksmi verschwanden in der Küche des Restaurants, um der Köchin zu helfen. Der Gastraum hatte sich inzwischen bis auf den letzten Platz gefüllt, und die Frau brauchte dringend Unterstützung. Als alle gegangen waren, stand auch Ingrid auf.
»Sie haben mir für heute Abend freigegeben«, sagte sie zu Anna. »Lass uns in unsere Privatwohnung gehen, dort ist es wärmer. Du platzt wahrscheinlich schon vor Neugierde.«
Anna folgte ihr in eine gemütliche Wohnung im ersten Stock. Hier bedeckten Teppiche alle Fußböden, und schwere Holzmöbel und Nippes aus allen Teilen Asiens verbreiteten Behaglichkeit, aber das Beste war der Kamin. Nachdem Ingrid Anna einen Platz auf einem ausladenden Sofa angeboten und ihr eine Wolldecke gegeben hatte, entfachte sie ein Feuer, sperrte die Nacht mit dicken Vorhängen aus, setzte Tee auf und gesellte sich schließlich zu ihrem Gast.
»Dein Anruf im Sommer hat mich sehr überrascht«, sagte sie. »Ich möchte dir noch einmal mein herzliches Beileid aussprechen.« Sie schnaubte. »Blödes Gewäsch. Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass ich mir vorstellen kann, wie traurig du bist und was du durchgemacht hast. Mich hat es ebenfalls ziemlich erschüttert.«
»Eins verstehe ich nicht. Ach was, eins! Ich verstehe gar nichts«, sagte Anna. »Aber ich fange jetzt einfach mal mit einer Frage an: Wenn dich Mamis Tod so berührt, musst du ihr sehr nahegestanden haben. Warum habe ich dann nie von dir erfahren? Hattet ihr Kontakt? Und wenn ja, warum heimlich? Bist du tatsächlich meine Patentante? Warum hast du dich in den Briefen Laksmi genannt und mich Annapurna?«
»Nicht so schnell, liebe Anna. Das waren schon fünf Fragen statt einer. Ich werde dir alle beantworten und noch viel mehr. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin, dir endlich die Wahrheit erzählen zu dürfen. Ich war von Anfang dagegen, sie vor dir zu verbergen. Babsis früher Tod ist furchtbar, und doch bin ich froh, nicht mehr an mein Versprechen gebunden zu sein. Du hast ein Recht darauf, alles zu erfahren.«
»Was für ein Versprechen? Es hängt mit meiner Geburt zusammen, oder? Mit Mamis und Papis Hochzeitsdatum stimmt etwas nicht, aber ich habe keine Ahnung, was dahintersteckt.«
Ingrid drehte nervös ihre Teetasse in den Händen. »Es begann alles lange vor deiner Geburt«, sagte sie leise. »Hat Eddo dir denn gar nichts erzählt?«
»Ich habe ihn nicht gefragt, weil es ihm sehr schlechtgeht. Es wird lange dauern, bis er Mamis Tod verwunden hat. Vielleicht wird er nie ganz darüber hinwegkommen.«
»Eddo hat deine Mutter sehr geliebt«, sagte Ingrid leise. »Trotz allem.«
»Trotz allem? Was meinst du?«
Ingrid stieß einen lauten Seufzer aus, stand auf, nestelte an der Gardine, legte ein neues Holzscheit in den Kamin und kam dann zurück.
»Es ist sehr kompliziert«, sagte sie.
»Ihr wart Hippies, oder?«
Ingrid zuckte die Achseln. »Was macht einen Hippie aus? Darüber solltest du dir selbst ein Urteil bilden, wenn ich alles erzählt habe.« Sie straffte sich. »Du hast vorhin wissen wollen, ob deine Mutter und ich in den letzten Jahrzehnten in Kontakt standen. Ich muss es leider verneinen. Nachdem alles ins Rollen gekommen war, hat Babsi meine Briefe nicht mehr beantwortet. Ich nehme an, sie wollte einen sauberen Schlussstrich ziehen. Dass sie meine Briefe aufgehoben hat, überrascht mich. Ehrlich gesagt rührt es
Weitere Kostenlose Bücher