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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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mich auch. Es war für mich schwer zu akzeptieren, dass sie mich vergessen haben könnte.«
    Verwundert bemerkte Anna die Tränen in Ingrids Augen. Seit Jahrzehnten hatte sie nichts von Bärbel gehört, und doch ging ihr die Geschichte, was auch immer vorgefallen sein mochte, bis heute nahe.
    »Möchtest du lieber morgen weitererzählen?«, fragte sie. Auf einen Tag mehr oder weniger kam es nicht an, doch Ingrid verneinte.
    »Babsi und ich kannten uns seit Kindertagen«, begann sie. »Wir besuchten in Gießen dieselbe Schule. Ich bin zwei Jahre älter als deine Mutter, aber da ihr Vater darauf bestanden hatte, sie schon mit fünf Jahren einzuschulen und ich eine Ehrenrunde gedreht hatte, waren wir ab dem achten Jahrgang in einer Klasse. Während ich ziemlich laut war – vorlaut, meinten die Lehrer –, bekam deine Mutter kaum die Zähne auseinander. Schüchtern saß sie in der letzten Reihe, die Kleinste und Zarteste der Klasse und in der Hühnerhackordnung ganz unten. Als ich sie nach einigen Wochen wahrnahm, empfand ich Mitleid mit ihr und stellte sie unter meinen persönlichen Schutz. Aus der Zweckgemeinschaft entwickelte sich bald eine Freundschaft. Babsis verborgene Seite überraschte mich. Sie war lustig und hatte die verrücktesten Ideen, schreckte aber immer davor zurück, sie in die Tat umzusetzen. Sie stand unter der Fuchtel ihres Vaters, genau wie ihre Mutter, die in der Familie überhaupt nichts zu sagen hatte. Alles drehte sich nur um Babsis widerlichen Bruder.«
    »Wie bitte? Mami hatte doch gar keinen Bruder.«
    »Du hast einen Onkel. Wusstest du das etwa auch nicht?«
    Anna schüttelte den Kopf. Wohin sollte all dies noch führen?
    »Er war der personifizierte Schweinehund«, stieß Ingrid hervor, und Anna erschrak über ihren bitteren und zugleich hasserfüllten Ton. »Harald ist vier Jahre älter als Babsi und hat sie mit voller Rückendeckung deines Großvaters –« Ingrid brach ab und starrte Anna an. Dann schüttelte sie leicht den Kopf, als wolle sie sich von etwas überzeugen, atmete tief durch und fuhr fort: »Babsis Bruder und ihr Vater waren widerwärtige Tyrannen, die sich die Pantoffeln haben bringen lassen und nicht wussten, wie man ein Ei aufschlägt. Wie habe ich dieses Haus gehasst! Den Mief, die reaktionären Sprüche.« Ingrid schüttelte sich. »Wie du siehst, rege ich mich heute noch darüber auf. Ich besuchte Babsi trotzdem immer wieder, aber natürlich fand dein Großvater mich unmöglich. Als wir in die zehnte Klasse gingen, hat er Babsi den Umgang mit mir verboten, was nicht ganz klappte, denn wir sahen uns ja noch in der Schule. Ich nehme an, dass auch andere Eltern Angst um ihre Brut hatten, wenn ich in der Nähe war. Ich trug bunte Kleider wie die Hippie-Mädchen in dem verrufenen Musikschuppen Scarabe, ging sogar selbst dorthin, da war man natürlich misstrauisch. Meine Eltern versuchten, mich wieder auf den rechten Weg zu bringen, du weißt schon: ›Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst‹ und Ähnliches, aber ihre Sprüche prallten an mir ab. Irgendwann resignierten sie und ließen mich in Ruhe. Damit hatte ich zwar meine Eltern als Feindbild verloren, aber es gab ja noch genug andere. Deinen Großvater zum Beispiel, der Babsi verprügelte, wenn sie nicht spurte. So, ich glaube, ich brauche jetzt eine Zigarette. Willst du auch eine?«
    »Ich habe noch nie geraucht.«
    »Du bist ziemlich vernünftig, was?«, fragte Ingrid.
    »Ich denke, schon. Wieso?«
    »Nur so. Das musst du von Eddo haben.«
    Es dauerte eine Weile, bevor Ingrid ein zerknautschtes Zigarettenpäckchen, ein Feuerzeug und einen Aschenbecher aus diversen Schrankfächern und Schubladen zusammengesucht hatte. Als sie sich wieder auf das Sofa fallen ließ, wirkte sie gesammelter als zuvor.
    »Soll ich weitermachen?«
    Anna nickte. »Deshalb bin ich hier.«
    »Du hast dich sicherlich darüber geärgert, dass ich dich herbestellt habe, anstatt dir alles am Telefon zu erzählen?«
    »Geärgert ist das falsche Wort. Gewundert trifft es wohl eher.«
    »Glaub mir, es ist besser so. Außerdem wollte ich unbedingt, dass du all das mit eigenen Augen siehst.« Sie holte weit mit den Armen aus, und die Geste umschloss viel mehr als nur das Wohnzimmer, das Hotel oder Darjeeling. Anna begriff, dass Ingrid Indien meinte, Asien, die ganze Welt. »Es bedeutet mir viel, und auch deiner Mutter hat es viel bedeutet.«
    »Also war sie tatsächlich hier?«
    »Eins nach dem anderen. Wo war ich

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