Im Tal des Schneeleoparden
noch gar nicht. Warum hätte Bärbel sonst ohne Eddo nach Asien aufbrechen sollen?«
»Entschuldige, ich glaube, ich muss mich übergeben.« Anna sprang auf und hastete davon. Sie fühlte sich, als wäre sie nicht mehr in ihrem Körper zu Hause. Ihr Herz hämmerte, während sie zusammengekrümmt zwischen Teesträuchern hockte und süßen First Flush Super Fine Tippy Golden Flowery Orange Pekoe zusammen mit bitterer Galle erbrach. Dies alles geht mich nichts an! Es ist eine Verwechslung!, schrie es in ihr, doch gleichzeitig wusste sie, dass Ingrid die Wahrheit erzählt hatte. Anna hieb auf den Boden. Nach über drei Jahrzehnten erfuhr sie die Wahrheit, aber was sollte sie damit anfangen? Ingrid hatte sie in einen Abgrund gestürzt, ebenso tief wie jener, in dem ihr Vater zu Tode gekommen war. Ihr Vater? »Eddo!«, schrie sie gequält. »Papi!«
Sie wusste nicht, wie lange sie zwischen den Teesträuchern gehockt und immer wieder ein einziges Wort geflüstert hatte: »Nein. Nein. Nein. Nein.« Als würde dieses Mantra alles ungeschehen machen. Endlich kam Ingrid und führte sie zur Teebude zurück. Die Apfelwangige hatte neuen Tee aufgebrüht, und tatsächlich beruhigte sich Anna mit jedem Schluck mehr, bis sie schließlich genügend Kraft gesammelt hatte, weitere Fragen zu stellen – und den Antworten standzuhalten.
Der Rest der Kathmandu-Reise war erstaunlich schnell erzählt. Anna erfuhr, dass Achim Bärbel erneut anbot, bei ihm zu bleiben, doch als sie ablehnte und ihm offenbarte, ein Kind von Sylvain zu erwarten, zog er sich von ihr zurück, half ihr aber noch, ein Flugticket nach Deutschland zu organisieren, und legte sogar das fehlende Geld dazu. Außerdem kümmerte er sich darum, dass Pieter, dessen Drogenkonsum jedes Maß überschritten hatte, von der deutschen Botschaft repatriiert wurde. Ende Juni bestiegen Bärbel und Pieter ein Taxi zum Flughafen, und das Letzte, was sie in ihrem Leben von Achim sahen, war sein Rücken, als er wieder in die Annapurna Lodge ging. Er winkte ihnen nicht einmal nach. Nach einer traurigen Rückreise kamen sie drei Tage später im Foelkenorth an, wo Bärbel vollends in ihrem Kummer versank.
»Und so fand ich sie, als ich im September aus Indien zurückkehrte. Abgemagert, leerer Blick und ein spitzer Bauch, der wie ein Fremdkörper an ihr hing. Ich habe sie einigermaßen aufrichten können, und es gelang mir sogar, Vorfreude auf das Kind, ich meine natürlich auf dich, in ihr zu wecken. Zum Arzt ist sie nie gegangen, da wir uns zutrauten, die Geburt auch so über die Bühne zu bringen. Wir waren ziemlich naiv und argumentierten, bei den Naturvölkern kämen die Frauen ja schließlich auch ohne das ganze Zivilisationsbrimborium aus.« Sie lachte freudlos. »Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sich Komplikationen ergeben hätten. Aber du warst so ein winziges Baby! Winzig und wunderhübsch.« Sie machte eine Pause. »Deine Mutter hat dich von der ersten Sekunde an geliebt. Als sie dich im Arm hielt, war ihre Apathie von einem Moment zum anderen wie weggeblasen, und sie schwor, dir das schönste Leben der Welt zu bieten. Entschuldige.« Ingrid waren Tränen in die Augen getreten, und sie benötigte einen Moment, ehe sie fortfahren konnte. »Im Foelkenorth warst du bereits das dritte Kind, wir hatten also eine gewisse Übung im Umgang damit, und du hast sowieso alle um den Finger gewickelt. Ich sehe dich heute noch mit den anderen beiden Kleinen im Garten hinter Che und Fidel hertapsen.«
»Che und Fidel?«
Ingrid räusperte sich. »Die Kommunenkater«, sagte sie, und es schien ihr ein bisschen peinlich zu sein. »Wir hatten auch einen Esel.«
Ein Lächeln flog über Annas Gesicht. »Lass mich raten: Er hieß Mao.«
»Nö, der war unpolitisch. Wir nannten ihn Jim, nach Jim Morrison. Der Esel war nämlich genauso nonkonformistisch und nicht zu bändigen. Er lebte allerdings länger. Wahrscheinlich, weil er nichts von Drogen hielt.«
Ingrid war sichtlich erleichtert über Annas zaghaften Versuch, dem Gespräch eine leichtere Note zu geben, und fuhr fort: »In den ersten Monaten nach deiner Geburt milderte sich Babsis Schwermut, sie nahm an Gewicht zu und weinte kaum noch. Doch dann begann sie unter der gesellschaftlichen Ächtung zu leiden. Wenn sie sich mit dir in eine der Kleinstädte im Umkreis wagte, wurde mit dem Finger auf sie gezeigt. Ich erinnere mich daran, wie Babsi einmal völlig verstört auf den Hof zurückkehrte. Eine Frau hatte ihr zugezischt, sie
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