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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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biss sich auf die Unterlippe, um sie zurückzuhalten. Sie hatte weiß Gott genug geweint. Als Ingrid ihr ein Kissen in den Nacken schob, setzte sie sich auf.
    »Das kann ich sehr gut verstehen«, sagte Ingrid ernst.
    »Mein ganzes bisheriges Leben ist auf Lügen aufgebaut, Lügen, die sich zu einem Berg aufgetürmt haben und alles Vergangene unter sich ersticken. Worauf kann ich mich noch verlassen? Ich habe ja nicht einmal mehr einen Vater.« Trotzig wischte sich Anna mit dem Schlafanzugärmel über die Augen.
    »Jetzt mach aber einen Punkt. Natürlich hast du einen Vater: Eddo.«
    »Er hat mich von Anfang an belogen.«
    »Aber er hat es getan, weil er dich liebt. Er hat geglaubt, das Richtige zu tun, indem er dir eine neue Identität verschafft. Ein neues Leben.«
    »Ein neues Leben, bevor ich überhaupt die Erinnerung an ein altes hatte«, sagte Anna bitter.
    »Es wäre aber ein Leben ohne Vater gewesen.«
    »Und so habe ich ein Leben mit einem falschen Vater.«
    »Das ist unfair Eddo gegenüber.«
    Anna antwortete nicht.
    »Hat er sich je dir gegenüber schlecht verhalten? Hat er dich spüren lassen, dass du nicht seine Tochter bist?«
    Anna schüttelte widerwillig den Kopf. »Nein, alles war okay.«
    »Nur okay?«
    »Natürlich nicht nur okay«, brauste Anna auf. »Eddo ist ein Supervater, der mir jeden Wunsch von den Lippen abliest und mich wie eine Prinzessin behandelt. Willst du das hören?«
    »Es ist zumindest das, was ich erwartet habe. Glaubst du denn, wir hätten in die Täuschung eingewilligt, wenn wir Zweifel an Eddo gehabt hätten? Er trug deine Mutter auf Händen und akzeptierte dich sofort. Du ihn übrigens auch. Noch bevor deine Mutter und er ein Paar wurden, gab es für dich nur Eddo, Eddo, Eddo, wenn er auf dem Foelkenorth war.«
    Anna schloss die Augen. Ihr Vater. Nein, der Mann, der vorgab, ihr Vater zu sein. Eddo, der sie mit seiner Ruhe und Beständigkeit durch die mäßig turbulenten Zeiten ihrer Pubertät geführt hatte, mit dem sie alles besprechen konnte und der, zumindest bis zum Tod seiner Frau, ihr stets mit guten Ratschlägen zur Seite gestanden hatte. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, wie sich Anna eingestehen musste, an deren Liebe zu ihren Kindern zwar nie Zweifel bestanden hatte, die aber oft abwesend wirkte und nie recht auf ihre und Timos Sorgen einging. Im Grunde hatte sich Eddo um sie und ihren Bruder wesentlich mehr und wahrscheinlich auch besser gekümmert als ihre Mutter.
    Und doch. Anna erinnerte sich plötzlich an einen Vorfall aus ihrer Kindheit. Sie musste etwa sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein und hatte gelangweilt in einer Illustrierten geblättert, bis sie eine Seite mit vielen Bildern aufschlug und an einem von ihnen hängenblieb: Mehrere Kinder saßen in einem kleinen Kanu und hatten offensichtlich viel Spaß. Die Kinder sahen völlig anders aus als alle, die sie bisher gesehen hatte, braun und mit seltsamen Augen. Sie hatten auch kaum etwas an, aber da die Palmen und Holzhäuser im Hintergrund in Sonnenlicht gebadet waren, froren sie wohl nicht. Was die Faszination damals auslöste, hätte Anna nicht mehr benennen können, dafür konnte sie sich aber umso lebhafter daran erinnern, wie sie ihren Vater bestürmt hatte, als er von der Arbeit nach Hause kam. Wieso diese Kinder so anders aussähen. Wo sie herkämen. Wo das sei. Ob sie auch dorthin könne. Ihr Vater hatte geduldig die Fragen beantwortet, doch bei der letzten war er plötzlich streng geworden. Nein, sie könnten nicht in dieses weit entfernte Land fahren, überhaupt würden Fernreisen nur Ärger bringen. Anna hatte mit dieser Antwort nicht gerechnet und auch nichts damit anfangen können, aber ein Satz hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt: Es ginge ihr in Deutschland doch gut, sie solle gefälligst mit dem zufrieden sein, was sie habe. Nie wieder hatte sie ihren Vater auf solche ebenso unverständlichen wie aufregenden Bilder, die ihr nun immer wieder in den Zeitschriften auffielen, aufmerksam gemacht, und nach kurzer Zeit erlosch ihr Interesse an der Fremde.
    Und nun kam ihr noch mehr in den Sinn, als sei eine Lampe in ihrem Kopf angegangen, die eine nach der anderen ihre Erinnerungen beleuchtete, damit Anna sie neu bewerten konnte.
    »Anna?« Ingrids Stimme. »Ist alles in Ordnung?«
    Anna schlug die Augen auf. »Wie man’s nimmt. Ich musste gerade an eine seltsame Sache denken. Ich war mit Mami einkaufen, und sie verliebte sich in ein knallbuntes, weites Kleid. Sie wollte es nicht für sich

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