Im Tal des Schneeleoparden
mitkommen?«
Sylvain stutzte. »Würdest du es denn wollen?«, fragte er vorsichtig. »Es wird sehr anstrengend, und du müsstest dein Gepäck selbst tragen.«
»Nein, es war nur eine Idee. Eine schlechte. Vier Wochen laufen würde ich nicht durchhalten.«
»Das befürchte ich auch. Du bist zu schwach, ma petite.«
Bärbel seufzte. Meine Kleine. Meine schwache Kleine. Er hatte ja recht. »Dann geh, wenn dir so viel daran liegt«, sagte sie bedrückt.
Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. »Mach nicht so ein Gesicht. Ich komme doch wieder.«
Die Vorbereitungen nahmen zwei Wochen in Anspruch, und Anfang März war es so weit. Bärbel und Pieter, der keinen Hehl daraus machte, Wandern zu verabscheuen, begleiteten Sylvain, Achim, Moon und einen weiteren Nepalesen aus der Stadt hinaus und bis weit hinein in die Felder. Wie schon in den Wochen zuvor verkniff sich Bärbel das Heulen. Sie wollte Sylvain beweisen, dass sie kein schwaches kleines Mädchen war, er sollte stolz auf sie sein.
Als es dann aber endgültig ans Abschiednehmen ging, brach die Fassade zusammen. Sie warf sich in Sylvains Arme und weinte haltlos. Sylvain strich ihr zärtlich über die Haare, bis sie sich beruhigt hatte. Dann löste er die Arme und griff in seine Hosentasche. Zum Vorschein kamen zwei Ketten mit jeweils einem Silberanhänger. Eine der Ketten legte er Bärbel um den Hals, die zweite sich selbst. Voller Freude bemerkte Bärbel das von kleinen Türkisen und Korallen gebildete ›B‹ auf der ovalen Silberplatte seines Anhängers.
»Ich habe sie anfertigen lassen. Auf deinem Anhänger steht ein ›S‹. Glaubst du mir jetzt, dass ich zu dir zurückkehre?«
Statt einer Antwort umfasste sie sein Gesicht mit den Händen. »Geh jetzt«, sagte sie heiser. »Umso schneller bist du wieder bei mir.«
Noch lange stand sie mit Pieter auf dem staubigen Feldweg und blickte den Männern nach. Sie fühlte sich unendlich verlassen.
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24
W arte!«, unterbrach Anna aufgeregt Ingrids Erzählung, nestelte ihre Kette unter dem Pullover hervor und streifte sie über den Kopf. »Ist es dieser Anhänger?«
Auf Ingrids Gesicht breitete sich Verwunderung aus. »Ja, allerdings«, sagte sie. »Woher hast du ihn? Eddo hatte Bärbel verboten, Erinnerungsstücke mitzunehmen. Sie hat sich daran gehalten.«
»Verboten? Wie konnte Papi ihr so etwas verbieten? Er ist doch gar nicht eifersüchtig. Jedenfalls hatte ich nie das Gefühl, er sei es«, sagte Anna mit zunehmender Verunsicherung. »Mami muss diesen Sylvain sehr geliebt haben. Ich finde es immer verwunderlicher, dass sie ihn nie erwähnt hat. Was ist passiert?«
»Gedulde dich, ich bin bald am Ende. Es ist mir trotzdem ein Rätsel, wie du zu dem Anhänger gekommen bist.«
»Ich habe ihn in einem alten Schrank im Foelkenorth gefunden. Er war unter die Schublade gerutscht, deshalb hat ihn niemand vor mir entdeckt.«
»Aber du hast ihn gefunden«, sagte Ingrid nachdenklich. »Oder es war umgekehrt: Vielleicht hat er all die Jahre nur darauf gewartet, von dir gefunden zu werden.«
»Unsinn, das ist doch nur ein totes Stück Metall«, sagte Anna, aber gleichzeitig überzogen sich ihre Arme mit einer Gänsehaut. Hatte sie sich nicht damals in ihrer Küche die Kette mit unerklärlicher Selbstverständlichkeit angelegt, so als hätte sie ein Recht dazu? Sie räusperte sich. »Weiter. Ich möchte wissen, warum sich Mami und Sylvain getrennt haben.«
Ingrid musterte sie mit einem schwer deutbaren Gesichtsausdruck. »Getrennt«, murmelte sie. »Ja, dann will ich mal.«
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25
B ärbel schaffte es gerade noch auf die Toilette. Ihr war speiübel. Als sie zehn Minuten später die Kabine wieder verließ, prallte sie mit Jutta zusammen. Jutta und ihr Freund Manfred waren vor zwei Wochen in Kathmandu angekommen und hatten ein Stockwerk tiefer ein Zimmer bezogen. Seitdem hatte Bärbel viel Zeit mit ihnen verbracht – mehr als mit Pieter, der sich seit Achims und Sylvains Abschied vor vier Wochen häufiger mit Anita und ihren Freunden traf.
»An den ewigen Durchfall habe ich mich ja gewöhnt, aber diese Übelkeit ist schlimm. Hoffentlich habe ich mir nichts Ernstes zugezogen.« Bärbel versuchte ein Lächeln und trat zum Waschbecken, um sich den Mund auszuspülen. Jutta wartete, bis sie fertig war.
»Es könnte etwas verdammt Ernstes sein«, sagte sie. »Das geht jetzt schon seit einer Woche so.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Bärbel erschrocken.
»Allerdings. Du bist bestimmt
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