Im Tal des Schneeleoparden
solle mit ihrem Bastard verschwinden. Und dass sie sich ja nicht einbilden solle, dass das Balg jemals in der Schule des Ortes akzeptiert würde. Ungefähr in dieser Zeit bekam Pieter Besuch von seinem zwei Jahre älteren Bruder Eddo. Eddo war entsetzt, als er Pieters Zustand erkannte – sein Bruder war mittlerweile heroinabhängig und nur noch ein Schatten seiner selbst. Eddo, der sich mit seinem Bruder schon während ihrer Pubertät verkracht und den Foelkenorth gemieden hatte wie der Teufel das Weihwasser, machte es sich zur Aufgabe, Pieter zu retten, und kam nun regelmäßig mindestens jedes zweite Wochenende. Da auch Babsi sich um Pieter kümmerte, lernten die beiden sich gut kennen. Ein halbes Jahr später war Eddo bis über beide Ohren in deine Mutter verliebt und machte ihr einen Antrag. Sie nahm an, und am 3. September 1973 haben sie standesamtlich geheiratet. Zwei Wochen später starb Pieter an einer Überdosis.«
»Gibt es eigentlich irgendetwas Schönes in deiner Geschichte?«, fragte Anna leise.
»Ist die Hochzeit von deiner Mutter und Eddo denn nicht schön?«
»Das muss sich noch zeigen. Warum die vielen Lügen?«
»Unter anderem, um dich zu schützen.«
»Wie bitte? Ihr habt mir meinen Vater vorenthalten!«
»Er starb, ohne je von Babsis Schwangerschaft erfahren zu haben. Ich hatte ja schon erwähnt, dass Babsi der Ablehnung seitens des Establishments nicht gewachsen war, und sie ergriff die Gelegenheit, auf die andere Seite zu wechseln: Dein Vater, ich meine Eddo, gehörte zum Establishment. Im Grunde konnte er mit uns Hippies überhaupt nichts anfangen, wenn er uns auch nicht verachtete. Seine Träume sahen anders aus: Familie, Haus, sicherer Arbeitsplatz. Ein zufriedenes Leben ohne Höhen und Tiefen. Eddo hat dich von Anfang an gemocht, und später hat sich Liebe daraus entwickelt. Eddo ist sehr gradlinig, es stand für ihn außer Frage, dich wie sein eigenes Kind zu behandeln, aber dafür verlangte er von Babsi absolutes Stillschweigen bezüglich ihrer Vergangenheit und deiner Herkunft – zu deinem Besten, zu ihrem Besten, aber auch zu seinem Besten. Er wollte, dass du ihn als deinen Vater ansiehst, und er war bereit, sich diesen Status mit Lügen zu erkaufen. Wie ich ihn kenne, waren es die einzigen Lügen seines Lebens.« Sie zuckte die Achseln. »Es sind ja auch genug.«
Anna stöhnte auf. »Das kannst du laut sagen. Mach weiter, das war doch bestimmt noch nicht alles. Wie haben sie beispielsweise die Papiere fälschen können?«
»Beziehungen. Eddo hatte einen Freund bei der Oldenburger Stadtverwaltung. Ich habe keine Ahnung, wie er es schaffte, ihn breitzuklopfen, Urkundenfälschung ist ja kein Pappenstiel. Genauso unklar ist mir, wie er seine Eltern täuschen konnte, aber vielleicht wussten sie Bescheid. Im Nachhinein betrachtet, ist das sogar wahrscheinlich, gab es doch auch ihnen die Möglichkeit, den Schein zu wahren und sich nicht den Makel eines Enkelkindes aufzubürden, mit dem sie nicht verwandt sind.«
»Und mein Geburtstag?«
»Ein Versehen. Du hattest keine Geburtsurkunde. Im Foelkenorth wollten wir mit dem Staat nichts zu tun haben, und dem wiederum ist deine Existenz beinahe drei Jahre lang durch die Lappen gegangen. Du warst immer sehr klein und zart, und dieser Freund von Eddo, der Standesbeamte, hatte wohl auch keinen guten Blick für das Alter von Kleinkindern. Jedenfalls hat er dich ein Jahr jünger gemacht. Babsi und Eddo ist der Fehler nicht gleich aufgefallen, und als sie ihn entdeckten, wollten sie den Typen nicht noch einmal behelligen«, erklärte Ingrid. »Immerhin stimmt der Tag«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
»Immerhin«, sagte Anna bitter. »Es scheint allerdings das Einzige zu sein, was stimmt.« Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und beobachtete mehrere braun-schwarze Vögel mit lustigen gelben Augenbinden, die in der Hoffnung, ein paar Krümel abzustauben, um den Tisch hüpften. Eine fröhliche, freche Großfamilie, dachte Anna. Ihr habt’s gut. »Und meine Familie? Was ist mit meinen Großeltern?«, fragte sie. »Ist der Unfall ebenfalls ein Phantasiegespinst? Verbringen die beiden quicklebendig ihren Lebensabend auf Mallorca?«
»Deine Großeltern sind tot, allerdings stimmt die Version mit dem Unfall vor deiner Geburt tatsächlich nicht. Von meinen Eltern weiß ich, dass deine Großmutter irgendwann in den Achtzigern an Krebs verstarb, während dein Großvater vor etwa zehn Jahren ein Pflegefall wurde, Demenz. Er ist« –
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