Im Tal des Schneeleoparden
sie überlegte einen Moment – »98 oder 99 gestorben. Ich vermute, sie haben nie erfahren, dass es dich gibt.«
Anna fehlten plötzlich die Worte. Was war damals geschehen, dass sich ihre Mutter so unversöhnlich gezeigt hatte? Waren es wirklich nur die Prügel gewesen? Sie konnte es sich kaum vorstellen. »Dieser Bruder«, fragte sie vorsichtig. »Mein Onkel. Welche Rolle spielte er? Lebt er noch?«
»Harald?« In Ingrids Miene spiegelte sich unendlicher Abscheu. »Ja, soweit ich weiß, wandelt er noch auf der Erde und tyrannisiert nach alter Familientradition seine Frau.« Sie lachte bitter auf. »Gut, dass er keine Töchter hat.«
»Soll das heißen, du hast Kontakt zu ihm?«
»Gott bewahre«, antwortete Ingrid scharf. »Aber meine Eltern wohnen nur ein paar Straßen entfernt von Babsis Elternhaus – das sich Harald selbstverständlich unter den Nagel gerissen hat. Sie schnappen hier und da etwas auf. Ich selbst habe Harald nur ein einziges Mal wiedergesehen, kurz nachdem sich die Kommune in Ostfriesland aufgelöst und ich für eine Weile Unterschlupf bei Freunden in Gießen gefunden hatte.« Sie ballte die Fäuste. »Der Kerl sah aus wie ein Ebenbild seines Vaters, aufgeblasen und selbstgerecht. Für einen Moment war ich versucht, hinzugehen und ihm eine reinzuschlagen, aber was hätte es genutzt? Babsi wollte keinen Staub aufwirbeln. Sie versuchte, ihn aus ihrem Gedächtnis zu löschen, was ihr natürlich nie gelang. Er hat ihr Leben zerstört.«
»Hör auf, um den heißen Brei herumzureden!« Anna erschrak über ihren aggressiven Ton, aber er ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Sie musste wissen, was geschehen war. »Was hat dieser Harald Mami angetan?«
Ingrid wand sich. Anna sah ihr an, dass in ihr ein Kampf um die richtigen Worte tobte. Sie fühlte sich zunehmend beklommener, und eine fürchterliche Ahnung keimte in ihr auf. Sie sollte sich nicht täuschen.
»Das Schwein hat Babsi vergewaltigt«, stieß Ingrid schließlich hervor. »Und anstatt seine Tochter zu beschützen, hat dein Großvater sie windelweich geschlagen und ihr noch schlimmere Schläge angedroht, sollte sie jemals ein Wort darüber verlieren. Noch in derselben Nacht ist Babsi abgehauen, nicht ohne ihren Eltern einen Brief zu hinterlassen. Sie würde alles an die große Glocke hängen, falls sie versuchten, sie ausfindig zu machen, stand darin. Sie hat ihre Familie nie wiedergesehen. Babsi war völlig allein auf der Welt.«
Noch lange, nachdem Ingrid zum Hotel zurückgegangen war, saß Anna an dem Tisch vor der Teebude und starrte blicklos auf die sich im Sonnenuntergang rosa färbenden Wolkenbänke. In ihr war alles tot. Auch sie war allein, völlig allein. Kimball, von Ingrid geschickt, um Anna abzuholen, bemühte sich vergeblich, ihr eine Regung oder gar ein Wort abzuringen. Mechanisch erhob sie sich, als er sie dazu aufforderte, mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, und ihn beschlich das unheimliche Gefühl, eine Holzpuppe den dunklen Berg hinaufzubegleiten.
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27
Oktober 2003
I ngrid trat ein, bevor Anna auf ihr Klopfen reagieren und sie wegschicken konnte, wie sie es mit wechselndem Erfolg am Tag zuvor getan hatte. Die Bettdecke bis zur Nasenspitze gezogen, beobachtete sie unglücklich, wie ihre Gastgeberin durchs Zimmer stürmte und die Vorhänge beiseiteriss. Helles Sonnenlicht durchflutete den Raum und bohrte sich schmerzhaft in Annas Augen.
»Lass das«, sagte sie mit belegter Stimme und zog sich die Decke über den Kopf. »Ich will im Dunkeln bleiben.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage. Du hast dich jetzt beinahe zwei Tage in deinem Elend gewälzt, was wahrscheinlich auch richtig war. Aber genug ist genug. Es wird Zeit, dass du wieder auftauchst. Das Leben geht weiter.«
»Das glaube ich nicht«, murmelte Anna unter ihrer Decke.
»Was hast du gesagt?« Anna spürte die Matratze wackeln, als sich Ingrid neben ihr niederließ, und im nächsten Moment wurde ihr die Decke mit sanfter Gewalt vom Kopf gezogen. »Um Himmels willen!« Ingrid schnappte hörbar nach Luft. »Du siehst aus, als hättest du sechsunddreißig Stunden durchgeheult.«
»Vielleicht habe ich das ja«, sagte Anna und drehte den Kopf weg.
»Ach Kind.« Seufzend tätschelte Ingrid Annas Wange. »Du wirst dich damit abfinden müssen. Ich mache mir langsam Vorwürfe, dir alles erzählt zu haben.«
»Es ist, als sei Mami ein zweites Mal gestorben«, flüsterte Anna und spürte, wie ihr erneut die Tränen kamen. Sie
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