Im Tal des Schneeleoparden
will er sich mit mir treffen. In Kalkutta.«
»Anna?«
Anna drehte sich nicht um. Kim sollte ihr vom Heulen verquollenes Gesicht nicht sehen. Er trat neben sie.
»Es ist doch viel zu kalt hier oben auf dem Dach«, sagte er leise.
»Ja.« Das Piepsen eines Vögelchens.
»Darf ich?« Ohne ihre Antwort abzuwarten zog er seine Jacke aus und legte sie Anna um die Schultern. Gemeinsam starrten sie auf die Lichter Darjeelings.
»Ich fahre nicht nach Kalkutta«, sagte Kim nach einer Weile. »Ich werde den Mann anrufen und ihm sagen, dass ich ihn erst in vier Wochen treffen kann.«
Anna fuhr herum. »Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, rief sie. »Du musst diese Chance nutzen. In vier Wochen hat er jemand anderen gefunden.«
Kim wich ihrem Blick aus. »Wahrscheinlich«, murmelte er.
»Na also.«
»Es wird sicher nicht mit einem Gespräch erledigt sein. Er möchte außerdem, dass ich ihm ein Skript für einen Vortrag ausarbeite. Zur Probe.«
Wieder schwiegen sie. »Dir liegt viel an dieser Doktorandenstelle, oder?«, fragte Anna schließlich.
»Sehr viel. Aber heute Nachmittag hat sich die Welt verändert, Anna. Du bist mir wichtiger als alles andere.«
»Kim!« Anna trat einen Schritt zurück. Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Anstatt herumzuheulen, war es an der Zeit, endlich Stärke zu zeigen. »Kim, hör auf damit. Wir haben aus gutem Grund vorhin beschlossen, nichts zu überstürzen. Und genau deshalb wirst du nach Kalkutta reisen und dich dem Professor im besten Licht präsentieren, während ich in Nepal ein wenig Hippie-Atmosphäre schnuppere.« Sie straffte die Schultern. »Es geht um deine berufliche Zukunft«, sagte sie fest. »Aber meine Reise ist ebenfalls wichtig, und deshalb werde ich allein fahren. Vielleicht ist es sogar besser. Wenn du dabei wärst, würde ich mich doch nur auf dich verlassen. So habe ich mehr Muße, mich mit Annapurna zu unterhalten.«
»Du meinst es ernst?«
Anna nickte, obwohl sie ein bisschen Angst vor der eigenen Courage verspürte. Aber sie würde nichts zurücknehmen. »Sehr ernst«, sagte sie. Dann lächelte sie. »Bis zu meinem Rückflug sind es noch vier Wochen. Was hältst du davon, wenn ich die letzte Woche in Kalkutta verbringe?«
»Das wäre wunderbar.«
»Dann ist es abgemacht.« Anna stellte sich wieder neben ihn. Er begriff die Aufforderung und nahm sie in den Arm.
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30
D er Pangje stahl sich noch vor Tagesanbruch aus Muktinath davon. Mit weit ausholenden Schritten eilte er talwärts, bis ihm trotz der beißenden Morgenkälte warm wurde. Ein früher Pilger kam ihm entgegen und legte die Handflächen zum Gruß zusammen, doch der Pangje zollte ihm keine Aufmerksamkeit, sondern stürmte unbeirrt weiter. Etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang legte er eine erste Pause ein, mehr aus Gewohnheit als aus Erschöpfung. Obwohl er, seit er das Rebellenlager vor sechs Tagen verlassen hatte, Tag und Nacht gewandert war, schienen seine Kräfte zu wachsen, je näher er seinem Dorf kam. Er lachte in sich hinein. Dass er die Strecke in so kurzer Zeit bewältigt hatte, dürfte für so manchen ein weiterer Beweis seiner Zauberkräfte sein.
Er beschirmte die Augen. Zweihundert Meter unter ihm, dort, wo das Seitental von Muktinath auf das Haupttal des um diese Jahreszeit wenig Wasser führenden Kali Gandaki traf, lag auf einem Plateau über dem breiten Kiesbett die Oase Kagbeni. Abgeerntete graubraune Felder bedeckten einen halbmondförmigen Gürtel am Fuß des kahlen Hügels, an dessen Flanke der Pangje sich niedergelassen hatte. Die Felder hatten nie ausgereicht, die gut eintausend Bewohner Kagbenis zu ernähren, aber in der langen Geschichte des Ortes war es auch nie nötig gewesen. Kagbeni bezog seinen bescheidenen Reichtum aus dem Handel – strategisch günstig gelegen an der Abzweigung ins mehrere tausend Jahre alte Muktinath, wo die gläubigen Hindus und Buddhisten die einhundertacht Quellen und eine ewige Flamme verehrten, und dem Karawanenweg, auf dem seit uralter Zeit Salz und Wolle von Tibet und Mustang bis hinunter ins fruchtbare, mit mildem Klima gesegnete Pokhara transportiert worden waren.
Der Pangje konzentrierte sich. Tatsächlich, feines Geläut drang an sein Ohr, und kurz darauf zockelte eine schwerbeladene Eselkarawane tief unter ihm in sein Blickfeld. Heute brachten die Esel kein Salz mehr ins Tal, sondern Coca-Cola und Seife und Ketchup und Snickers, um den Ansprüchen der Wandertouristen gerecht zu werden. Während der Pangje
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