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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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Wer weiß, vielleicht ist meine Mutter bei der Geburt gestorben, und mein überforderter Vater hat mich in einen Hauseingang gelegt, in der Hoffnung, jemand erbarmt sich des Babys? So etwas kommt immer wieder vor. In Indien liegen Grausamkeit und Mitleid dicht beieinander.
    Ich hatte Glück. Ingrid stolperte im wahrsten Sinne des Wortes über mich. Sie war gerade desillusioniert aus Varanasi gekommen, wo sie an einen windigen Guru geraten war, der ihr eine herbe Lektion über den Sinn des Daseins erteilt hatte. Es ging dem Typen wohl ausschließlich um Geld. Mir hat sie später erzählt, dass ein Blick in meine Augen ihr die eigenen Augen öffnete. Der Sinn ihres Lebens lag quakend und unterernährt vor ihr, und sie zögerte keinen Moment, mich aufzuheben und mitzunehmen. Den Tag, an dem sie mich fand, bezeichnet sie als das Ende des Suchens und den Beginn des Erwachsenseins. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand Anspruch auf mich erhob, schleppte sie mich erst mal in Mutter Teresas Krankenhaus, um sich dort über Säuglingspflege aufklären zu lassen.«
    »Das ist unglaublich! Ich meine, sie war in Indien, ohne Arbeit und alles. Oder hat sie dich mit nach Deutschland genommen?«
    »Das ging nicht, da ich keine Papiere besaß, aber ich glaube, sie wollte auch gar nicht zurück. Mama sprach schon damals ein ganz passables Hindi und fließend Englisch. Sie fand eine Anstellung als Sekretärin in einer der englischen Traditionsschulen Kalkuttas und verdiente genug, um uns beide durchzubringen. Sie hatte eine winzige Wohnung gemietet, und ich erinnere mich gerne an die Zeit. Ingrid kämpfte wie eine Löwin, um meinen Status als ihr Pflegekind zu sichern und schließlich meine Aufnahme in eine gute Schule zu erzwingen. Vor ihr ist sogar die berüchtigte indische Bürokratie in die Knie gegangen.«
    »Und dein Vater, ich meine, Kaushik?«
    »Sag ruhig Vater. Das ist er nämlich für mich. Kaushik stammt aus einer Mittelklassefamilie in Orissa und kam Anfang der achtziger Jahre als Lehrer an die Schule, in der Ingrid arbeitete. Sie muss ihn sehr beeindruckt haben, denn er stieß seine Familie vor den Kopf, indem er sich einer arrangierten Ehe widersetzte und meiner Mutter einen Antrag machte. Ich weiß nicht, wie Ingrid es anstellte, aber sie schaffte es noch vor der Hochzeit, ihre Schwiegereltern zu bezaubern und mit Kaushik auszusöhnen. Ich selbst war damals sechs Jahre alt und vergötterte Kaushik und alles, was mit ihm zusammenhing. Endlich hatte ich eine richtige Familie. Kaum waren Ingrid und Kaushik verheiratet, nahmen sie den Kampf mit den Behörden wieder auf, unterstützt von Kaushiks gesamter Familie. Sie erreichten ihr Ziel: Ich durfte adoptiert werden und hatte zu guter Letzt meinen Platz in der Gesellschaft.«
    »Was für eine Geschichte«, bemerkte Anna erschüttert. »Stoff für einen Hollywoodfilm.«
    »Wohl eher Bollywood. Bis auf die Umstände meiner Geburt ist doch alles gut gelaufen. Ich habe wunderbare Eltern und zwei ebenso wunderbare Schwestern. Ich bin niemals als Stiefkind oder Stiefbruder behandelt worden. Aber lass mich die Geschichte zu Ende bringen: Wir blieben noch einige Jahre in Kalkutta. 1986 kam Laksmi zur Welt, und kurz darauf erbte Ingrid ein für indische Verhältnisse üppiges Vermögen von ihrer Großmutter. Das Geld ermöglichte es Ingrid und Kaushik, einen Traum wahr zu machen, den sie seit ihren in Darjeeling verbrachten Flitterwochen gehegt hatten. 1989 war es so weit: Laksmi’s Home gehörte uns. Wir kehrten Kalkutta den Rücken und zogen hierher in die Berge. Es war das Beste, was uns allen passieren konnte. Ich liebe Darjeeling.«
    »Wusstest du all dies von Anfang an?«
    »Nein. Ingrid hat es mir häppchenweise verabreicht. Da sie schlecht behaupten konnte, meine leibliche Mutter zu sein, tischte sie mir in den ersten Jahren Geschichten über ein befreundetes Ehepaar auf, das bei einem Verkehrsunfall gestorben sei.«
    »O nein.« Anna hieb sich auf den Oberschenkel. »Dieselbe Geschichte habe ich auch gehört. Über meine Großeltern.«
    »Na ja, irgendwie mussten sie es doch glaubhaft machen. Sei nicht so streng. Bestimmt hat deine Mutter dir deine Oma und deinen Opa netter beschrieben, als sie in Wirklichkeit waren, oder irre ich mich?«
    »Du hast ins Schwarze getroffen.«
    »Ingrid hat mir meine Eltern in leuchtenden Farben geschildert. Meine richtige Mutter sei so hübsch gewesen, dass die Vögel Lieder über sie sangen, während mein Vater ein angesehener

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