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Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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Ingenieur war, der Flugzeuge und Hubschrauber baute. Richtige Traumeltern. Ich war glücklich. In meiner Vorstellung hatte ich zwei Mütter und einen Vater, später sogar zwei Väter. Konnte es einem Kind bessergehen?«
    »Wann hat sie dir die Wahrheit gesagt?«
    »Als ich begann, die richtigen Fragen zu stellen. Ich war mittlerweile schon zwölf oder dreizehn und zweifelte die Plausibilität der Geschichten langsam an.«
    »Wie hast du es aufgenommen?«
    »Es war furchtbar. Ich steigerte mich in eine unbändige Wut auf meine leiblichen Eltern. Wie konnten sie mich im Stich lassen? Ich war ihr Kind, und sein Kind muss man doch liebhaben! Ich fühlte mich abgelehnt und ausgestoßen, aber der Zorn verrauchte, und auch die Traurigkeit verblasste. Meine Eltern halfen mir sehr, mit den Tatsachen umzugehen.«
    »Wüsstest du denn gern, wer deine richtigen Eltern waren? Wo sie herkamen?«
    »Anfangs wollte ich es herausfinden, aber ich merkte bald, dass es besser ist, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Ich hatte ohnehin keine Chance, etwas über ihren Verbleib zu erfahren. Ich habe meinen Frieden mit ihnen gemacht und hoffe, dass sie irgendwo ein menschenwürdiges Leben führen. Allerdings befürchte ich, dass dem nicht so ist. Wahrscheinlich sind sie tot.«
    Anna wusste nichts darauf zu sagen. Betreten zupfte sie ein paar Fusseln von ihrer Umhängetasche. Was hatte Kim anfangs gesagt? Er könne ihr besser helfen, als sie vermute? Vielleicht stimmte es: Im Vergleich zu ihm hatte sie es noch gut getroffen, denn sie wusste zumindest, wer ihr Vater gewesen und wo er gestorben war. Ein schwacher Trost. Oder meinte Kim etwas ganz anderes? Er legte Wert darauf, Kaushik als seinen Vater zu bezeichnen, hatte aber natürlich auch auf Eddo angespielt. Nein, dachte Anna, es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen deiner und meiner Geschichte: Ich bin ohne Not belogen worden, selbst als ich das Alter erreicht hatte, in dem ich mit den Enthüllungen hätte umgehen können. Meine Eltern haben mich aus purem Egoismus im Dunkeln gelassen. Hätte ich nicht die Briefe gefunden, so wäre ich bis zu meinem Tod mit einem falschen Namen, einem falschen Alter, einer falschen Identität in einem falschen Leben herumgetappt. Das lässt sich nicht so leicht verzeihen. Anna zog die Nase hoch, ein untrügliches Zeichen, dass gleich Tränen kommen würden, diesmal allerdings aus Wut, nicht aus Verzweiflung. Offensichtlich war sie in den letzten drei Tagen einen Schritt weitergekommen. Fahrig suchte sie in ihrer Tasche nach einer Rolle Toilettenpapier, riss ein Stück ab und schneuzte sich geräuschvoll.
     
    Den Nachmittag verbrachten Anna und Kim mit Einkäufen für die Reise. Kein Wort fiel mehr darüber, dass Anna allein fahren würde. Sie war froh, das Thema angeschnitten zu haben, aber noch glücklicher war sie über den Ausgang des Gesprächs. Sie würde mit Kim Nepal erkunden, die losen Fäden, die ihre Eltern möglicherweise dort zurückgelassen hatten, aufnehmen und verfolgen, und vielleicht wurde aus ihrer gegenseitigen Zuneigung tatsächlich mehr. Nur gut, dass auch Kim nichts übereilen mochte. Sie hatten endlose Wochen Zeit, sich zu beschnuppern.
    Der Anruf kam, während die Familie und Anna um den Abendbrottisch versammelt waren und Berge von Reis mit einem nach Kardamom duftenden Curry verputzten.
    Laksmi sprang auf, bevor jemand anderes reagieren konnte. »Ich gehe schon ran!«, rief sie und verschwand im Nebenzimmer.
    »Das ist bestimmt Mukesh«, kicherte Rikki-Tikki.
    »Mukesh?« Ihr Vater zog die Augenbrauen hoch. »Und wer, bitte schön, soll das sein?«
    »Och, niemand. Nur so ein Junge.«
    »Riddhi!«
    Bevor sich Rikki-Tikki eine Antwort zurechtgelegt hatte, erschien Laksmi wieder im Gastraum.
    »Für dich, großer Bruder. Kalkutta!«
    Kim sprang auf. »So spät am Abend?«, murmelte er und eilte zum Telefon.
    Die Gespräche verstummten, alle versuchten, ein paar Fetzen des durch die offene Tür dringenden Gesprächs aufzuschnappen und sich einen Reim darauf zu machen. Anna, die kein Wort verstand, zwinkerte Rikki-Tikki zu. Rikki-Tikki verdrehte die Augen. Sie schien ziemlich erleichtert darüber, dass ihre Indiskretion fürs Erste vergessen war.
    Kim legte auf und kam zurück an den Tisch. »Das war Professor Chandran von der Universität Kalkutta. Er findet mein Dissertationsthema interessant und möchte mich kennenlernen. Er hat mir sogar eine Dozentenstelle in Aussicht gestellt, falls er mein Doktorvater wird. Übermorgen

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