Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tal des Schneeleoparden

Im Tal des Schneeleoparden

Titel: Im Tal des Schneeleoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
Vom Netzwerk:
vorsichtig.
    »Mein Lieblingsplatz. Die Bhutia Busty Gompa ist zwar ziemlich berühmt, dennoch hat man hier meistens seine Ruhe. Der Tempel ist auch von innen sehr schön. Wenn du möchtest, können wir hineingehen.« Kim machte Anstalten, sich zu erheben, aber Anna hielt ihn zurück.
    »Später«, sagte sie beklommen. »Ich glaube, ich muss erst einiges klären. Ich will nicht, dass du mitkommst.«
    »Das sagtest du bereits. Warum der plötzliche Sinneswandel? Immerhin war es deine Idee.« Er zögerte. »Allerdings hätte ich es wohl selbst vorgeschlagen, wenn du mir nicht zuvorgekommen wärst.«
    »Aber warum?«
    »Meinst du, ich lasse dich allein dorthin? Das ist zu gefährlich.«
    Annas schloss die Augen, um eine aufwallende Übelkeit zu unterdrücken. Wie hatte sie sich nur derart in diese aussichtslose Sache hineinsteigern können? Nur gut, dass sie sofort die Initiative ergriffen und das Ganze bereinigt hatte. Sie würde mit einem blauen Auge davonkommen. Wie von ferne drang Kims Stimme zu ihr.
    »Aber der eigentliche Grund ist, dass ich mehr Zeit mit dir verbringen möchte. Ich mag dich, Anna. Ich mag dich sogar sehr.« Er hob beschwichtigend die Hand, als Anna Luft holte, um etwas zu erwidern. »Lass mich ausreden, bitte. Ich weiß ohnehin, was du sagen willst: dass wir uns erst wenige Tage kennen. Dass du älter bist als ich. Dass wir aus unterschiedlichen Welten kommen. Alles richtig. Aber im Grunde völlig unerheblich. Ich möchte mit dir nach Nepal fahren, um dich besser kennenzulernen.« Er räusperte sich. »Meine Mutter ist übrigens sieben Jahre älter als mein Vater«, schloss er mit einem unsicheren Lächeln.
    Anna war sprachlos. Noch hatte ihr Hirn seine Worte nicht zu etwas Sinnvollem zusammengefügt, aber ihr Herz schien bereits verstanden zu haben. Langsam löste sich ihre Anspannung. Am liebsten wäre sie Kim um den Hals gefallen, doch sie hielt sich zurück. »Ich empfinde dasselbe für dich«, sagte sie stattdessen. »Aber lass uns kleine Schritte machen. Ich möchte dich nicht verletzen. Ich bin im Moment so aufgewühlt von all den Lügen, die sich um mein Leben ranken, dass ich mir nicht zutraue, zu erkennen, was ich wirklich fühle und was ich mir nur einbilde. Erst muss ich in meinem Kopf aufräumen.«
    »Dabei kann ich dir wahrscheinlich besser helfen, als du vermutest.«
    »Ich weiß nicht …« Anna beobachtete einen dunkelrot gewandeten Mönch beim Fegen des ohnehin sauberen Platzes, in dessen Mitte eine Fahne an einem gebogenen Bambusmast im Wind knatterte. »Ich glaube kaum, dass du nachvollziehen kannst, wie es ist, von denen hintergangen worden zu sein, denen du am meisten vertraust«, fügte sie hinzu. »Ich nehme nicht an, dass deine Eltern dich jemals anlügen würden.«
    »Nun, wenn sie der Überzeugung wären, dass sie mich vor etwas schützen müssen, würden sie es vielleicht doch tun. Der Schein trügt oft.« Er lehnte sich mit aufgestützten Armen zurück und sah in die Ferne. »Ein weniger gutgläubiger Mensch als du hätte es wahrscheinlich sofort bemerkt.«
    »Worauf willst du hinaus?«
    »Wir haben eine Menge gemeinsam. Einen liebenden Vater beispielsweise, der nicht unser Vater ist.«
    »Wie bitte?«
    »Du hast richtig gehört: Kaushik ist nicht mein Vater. Und Ingrid nicht meine Mutter.«
    Annas Überraschung wich der Verwunderung über ihre Naivität. »Ich habe nur gesehen, was ich sehen wollte«, sagte sie kopfschüttelnd. »Dabei habe ich sogar bemerkt, dass du weder Ingrid noch Kaushik ähnlich siehst. Und es einfach hingenommen.«
    »Was sowohl für dich als auch für meine Familie spricht. Übrigens nehmen es die meisten einfach hin. Ich gehöre dazu, das Aussehen interessiert nicht.«
    »Und wie kam es, dass du –« Anna stockte. »Wann haben die beiden dich adoptiert?«
    »Ingrid hat mich als plärrenden Säugling auf der Straße gefunden, Jahre bevor sie Kaushik überhaupt kennenlernte.«
    »Auf der Straße?«, fragte Anna heiser. Sofort blitzte das Bild der jungen Mutter in Kalkutta mit dem wenige Stunden alten Säugling in ihrem Kopf auf.
    Kim nickte, den Blick noch immer in den Himmel gerichtet. »Ich wurde irgendwann Anfang 1976 geboren. Meine Eltern kenne ich nicht, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie Bauern waren, die ihr Glück in Kalkutta suchten, wie so viele, deren Haus und Land von einer der vielen Naturkatastrophen in Südbengalen zerstört wurden. Noch heute spült jeder Wirbelsturm, jede Überschwemmung Zehntausende nach Kalkutta.

Weitere Kostenlose Bücher