Im Tal des Schneeleoparden
Reisebudget unters Volk zu jubeln, und so wie es aussah, benötigten die Nepalesen das Geld dringender als die Inder. Anna knüllte ihre Frooti-Tüte zusammen und blickte die Straße hinunter zur Brücke über den Grenzfluss. Trotz ihres mulmigen Gefühls war sie überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Zum ersten Mal ging sie ein echtes, vielleicht lebensbedrohliches Risiko ein – und erfuhr, dass sich das Leben plötzlich von den Krusten der Gewohnheit befreite und in den prächtigsten Farben schillerte. Anna musste unwillkürlich lachen.
Ingrid sah sie neugierig an.
»Annapurna scheint mehr vom richtigen Leben zu verstehen als Anna«, erklärte Anna, noch immer lachend.
»Ganz offensichtlich. Sie wird dir schon noch eine Freundin werden«, bestätigte Ingrid.
»Ich möchte dich noch etwas fragen«, sagte Anna nach einem Moment des Schweigens. Sie war wieder ernst geworden. »In den letzten Tagen habe ich viel nachgedacht und bin dabei über einiges gestolpert, was ich bisher als gegeben hingenommen hatte. Mamis Geistesabwesenheit, beispielsweise. Sie hat sich oft zurückgezogen, und nun habe ich eine Vorstellung, in welcher Welt sie sich bewegt hat. Aber eins verstehe ich überhaupt nicht: Warum hat Eddo Mami geheiratet, obwohl er wusste, dass sie Sylvain nachtrauerte? Wie konnte er ihre Launen ertragen?«
»Du kennst deinen Vater besser als ich. Er –«
»… ist nicht mein Vater!«, fiel Anna ihr heftig ins Wort.
»Ich denke, darüber haben wir schon genug gesprochen«, sagte Ingrid knapp. »Also gut, du kennst Eddo besser als ich, deshalb müsstest du von selbst auf die Antwort kommen: Eddo steht zu seinem Wort. Er hatte sich in seinen ostfriesischen Dickschädel gesetzt, für deine Mutter zu sorgen, und davon konnte ihn nichts und niemand abbringen. Viel bemerkenswerter finde ich, dass seine Liebe zu Bärbel nie abgekühlt ist. Nach dem, was du mir erzählt hast, hat Babsi ihm Gründe genug geliefert, ihre Liebe zu ihm anzuzweifeln. Es muss für ihn sehr schmerzlich und verletzend gewesen sein, dass Babsi nie über den Verlust Sylvains hinweggekommen ist.«
»Das mag alles stimmen, aber warum hat er sie überhaupt geheiratet?«
»Heiße Liebe.«
»Zieh mich nicht auf. Eddo und heiß!«
»Nun, auch Eddo war mal jung. Deine Mutter passte hervorragend ins Beuteschema von Männern mit Beschützerinstinkt.«
»Du bist unmöglich.«
Ingrid zuckte die Achseln. »Das Leben ist unmöglich.« Sie stand auf. »Es wird Zeit. Ach, ich habe ganz vergessen, dir noch etwas zu sagen. Letzte Nacht habe ich in einem Anfall von Nostalgie nach Achim gegoogelt und tatsächlich einen sieben oder acht Jahre alten Artikel gefunden. Er hatte damals eine Schule irgendwo in Nepal gesponsert. Hätte ich ihm zwar nicht zugetraut, aber er mir bestimmt auch nicht, dass ich zu einer zufriedenen Glucke werde.«
»Das sagst du mir erst jetzt?«, fragte Anna empört. »Ich werde mich natürlich nach ihm umhören. Soll ich ihn grüßen?«
»Ich glaube kaum, dass er noch in Nepal ist, aber wer weiß. Ja, grüß ihn ruhig, solltest du ihn aufstöbern. Meine Telefonnummer rückst du allerdings nicht raus, verstanden? Ich habe keine Lust auf Komplikationen«, sagte Ingrid mit einem von Ohr zu Ohr reichenden Grinsen.
»Avec plaisir, mon général.« Anna schwang sich den von Kim geliehenen Rucksack auf die Schultern, und gemeinsam schlenderten die Frauen zur Brücke. Mit einem breiten Lächeln zog Ingrid die Tochter ihrer verstorbenen Jugendfreundin an sich. »Ich bin stolz auf dich«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Unvernunft ist das Chili im Curry des Lebens. An deiner Stelle hätte ich mich auch nicht von der Reise abhalten lassen. Und mein Sohn wartet sowieso auf dich. Er ist eine treue Seele. Ich wünsche dir viel Glück.« Damit ließ sie Anna los und schob sie auf die Brücke. »Ruf mich hin und wieder an, dann ist mir wohler. Und jetzt geh. Geh und sei offen für alles. Lüneburg ist nicht die Welt, weißt du?«
In der Mitte der Brücke angekommen, drehte sich Anna um und sah gerade noch Ingrids graublonde Locken aufleuchten, dann war sie allein. Allein zwischen Dutzenden und Aberdutzenden Indern und Nepalesen, die sich in beide Richtungen an ihr vorbeischoben.
Es fiel Anna erstaunlich leicht, ihre Weiterreise zu organisieren. Sie trug ihre Fahrkarte vor sich her wie eine Trophäe und fühlte sich beinahe beschwingt. Wenn es so reibungslos weiterlief, würde ihre Zeit in Nepal zum Spaziergang werden. Als sie den Bus
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