Im Tal des Vajont
zusammen. Gioanin de Scàndol rettete ihn vor dem sofortigen Tod. Er setzte ihn ans Feuer, schälte ihm die Kleider vom Leib, die stocksteif wie eine Eisenrüstung waren, wickelte ihn in zwei, drei Decken und gab ihm kochendheißen Grappa mit Zucker zu trinken. Aber der Junge wollte sich nicht wieder erholen, zitterte nur und klapperte mit den Zähnen. Da lud Gioanin de Scàndol ihn sich, ganz in Decken gehüllt, auf die Schulter und trug ihn hinauf ins Dorf zu seiner Mutter.
Tags darauf bekam der Junge starkes Fieber, war glühend heiß, zitterte am ganzen Leib und redete so irres Zeug, dass man nichts mehr verstand, fast schlimmer noch als Raggio. Dabei konnte ihm keiner zu Hilfe kommen, auch nicht der Arzt aus Cimolais, denn die Straßen waren voller Schnee und Eis, und selbst zu Fuß gab es kein Fortkommen mehr, die Kälte hielt alle in ihren Häusern gefangen.
Am zweiten Tag hörte der Bursche dann plötzlich zu reden auf, sein Gesicht brannte heißer noch als der Schmiedeofen meines Bruders, und alle glaubten, dass er nun bald sterben würde. Vielleicht hatte er sich auch eine Lungenentzündung eingefangen oder sonst eine üble Krankheit, keiner wusste das so recht. Nur dass er wohl bald sterben musste, darin war man sich sicher. Der Priester bestrich ihn mit heiligem Öl und rief zum Hoffen auf, aber mehr noch müsse man beten, denn alleiniges Hoffen würde nicht mehr hinreichen.
Am Abend des dritten Tages kam Marianna das Mädchen in den Sinn, das keine Kälte spürte, bei dem sich viele sicher waren, es sei eine kleine Madonna und vollbringe Wundertaten. Und so dachte sie daran, ihren Sohn Matteo zu ihr zu bringen, damit sie ihn heilen möge.
Die Frauen des Viertels sagten ihr, sie sei ja verrückt, aber sie verlor nicht den Mut, nahm den in Decken gehüllten Jungen in die Arme und trug ihn zu Felice und Maria Corona Menin ins Haus und setzte ihn dort vor die kleine Neve, die inzwischen kaum älter als zwanzig Tage war.
Als Marianna ihnen erklärte, warum sie gekommen sei, zeigte sich Maria Menin mehr als verwundert, das wäre ja zu schön, wenn ihre Tochter die Menschen heilen könnte, sie würde sich als Erste darüber freuen. Aber Marianna gab nicht auf und fragte, ob die Kleine ihren Sohn vielleicht am Gesicht berühren dürfe. Maria stimmte zu, ja, mach ruhig, und so hielt Marianna das Gesicht ihres Matteo dicht an jenes von Neve heran. Dann fasste sie ein Händchen der Kleinen und berührte damit das Gesicht ihres Sohns. Eine Weile lang ließ sie das Händchen dort ruhen, dann setzte sie es wieder ab.
Neve schien nicht einmal bemerkt zu haben, dass jemand ihr die Hand hochgenommen hatte. Doch es war kaum eine halbe Stunde vergangen, als Matteo wie aus einem Traum erwachte und wie von den Toten zum Leben erweckt auch wieder richtig zu sprechen anfing und »wo bin ich« fragte und »was ist hier überhaupt los«. Sie fassten sein Gesicht an, und es glühte nicht mehr, eiskalt war es, wie der Kupfereimer voll Wasser, der im Zimmerchen hing. Da mussten alle Anwesenden weinen, und die Frauen fingen an, den Rosenkranz zu beten und sich zu bekreuzigen vor dem hölzernen Korb, in dem die kleine Neve lag und inzwischen schon eingeschlafen war.
Von diesem Abend an änderten auch die, die bisher nicht an die kaum geborene Madonnina geglaubt hatten, ihre Überzeugung, und alle Bedürftigen gingen nun zu ihr, um eine Gnade zu erbitten. Aber nicht immer wurde ihnen auch Gnade erwiesen, denn einige kamen ohne Glauben, nur um eine Gnade zu erhalten, worauf dann auch gar nichts geschah, denn einem Ungläubigen gibt der Herr nichts. Und auch die Madonna gibt denen nichts, die nicht glauben, und tut gut daran, denn Wunder sind nicht wie auf einem Markt zu haben, wo einer bezahlt und dafür nimmt, was er will und was ihm dient. Die Wunder muss man in sich selbst erleben, und dazu muss man glauben, denn die Wunder sind die Seele des Menschen, der Gott um Barmherzigkeit bittet.
Auch ich ging mir dieses wundersame Mädchen anschauen, und alle drei Male war ich schwer betroffen, denn kaum kam ich in seine Nähe, fing es jedes Mal verzweifelt zu weinen an. Wenn ich dann fortging, hörte es auf zu weinen, kam ich wieder näher, weinte es von Neuem wie von einer Nadelspitze gestochen. Anfangs dachte ich noch, es sei bloßer Zufall, weil das Kind ja sonst niemals weinte, aber als es zum dritten Mal zu heulen anfing, als ich ihm näher kam, wusste ich, dass es kein Zufall war und ihm irgendetwas an mir Angst einjagte. Da
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