Im Tal des Vajont
ging ich es nicht mehr anschauen. Seine Mutter meinte, es wäre vielleicht mein Geruch, da ich ja mit Kühen und Ziegen umging, aber das glaube ich nicht, denn auch die anderen gingen mit Kühen und Ziegen um, und bei ihnen weinte das Mädchen nicht, wenn sie ihm näher kamen.
Eines Tages brachten Freunde auch Raggio zu der Kleinen, um zu sehen, ob sie ihn vielleicht von seinem Wahn heilen könne, aber kaum stand er vor ihr, begann sie schlimmer als bei mir zu heulen. Da zogen sie ihn wieder weg von ihr, und augenblicklich hörte sie auf zu heulen, und Raggio blieb so verrückt als wie zuvor.
So war es nun einmal, im ganzen Dorf heulte die kleine Madonna Neve nur, wenn ich und Raggio ihr nahe kamen. Und wehe, sie begegnete uns auf der Straße! In eine Decke gewickelt auf dem Arm ihrer Mama Maria hörte sie uns schon aus zehn Metern Entfernung und heulte los, selbst wenn sie schlief. Es war ein Rätsel, das sich niemand erklären konnte, und so gab man schließlich auf, es erklären zu wollen.
Jedenfalls ging auch dieser Strafwinter vorüber, der nur Tote auf den Straßen und Kälte in den Knochen und Herzen zurückließ.
Und so sah man dem Osterfest entgegen.
Am Karfreitag geschah ein Akt des Teufels, der alle erschreckt verstummen ließ. Man hatte geplant, die Passionsprozession und die Kreuzigung zu veranstalten, wozu mehr als zweihundert Menschen aus dem Dorf benötigt wurden. Den Kaiphas spielte einer aus Soprafuoco, den Pilatus einer aus San Martino, den Christus einer aus der Ortschaft San Rocco, groß und mager wie ein Stockfisch, und den Judas schließlich spielte einer vom Col delle Cavalle, dort, wo das Zemolatal beginnt. Von dort oben kamen immer schon die Gottverdammten, und so hatte man einen von ihnen für die Rolle des Judas ausgewählt. Giulin Filippin Sesto hieß dieser Mann vom Col delle Cavalle, auch er war ein Schnitter, der auf den Palazzahöhen mähte und länger als alle anderen in der Höhle der alten Melissa nächtigte, weil er dort oben mehr Grund als die anderen besaß und deshalb auch immer erst eine Woche später mit dem Mähen seiner Wiesen fertig war.
An diesem Karfreitagabend sollte er als Judas, wie immer nach dem Verrat an Jesus, sich zum Schein an einem ausgetrockneten Baum auf dem Pico del Valdenere erhängen. Keiner weiß, was ihm dabei durch den Kopf ging, Tatsache aber ist, dass Giulin Sesto sich wirklich erhängte, und als die anderen es bemerkten, war er schon seit einer Weile tot. Sie zogen ihn vom Baum herunter und riefen den Priester Don Chino Planco, der ihm nicht einmal einen kümmerlichen Segen geben, geschweige denn ihn bekreuzigen wollte, da er sich selbst umgebracht hatte, und die so etwas tun, erhalten weder Kreuzzeichen noch heiliges Wasser, sagte Don Chino. Aber weil er gleich mehrere Drohungen bekam, sah sich Don Planco gezwungen, unseren Freund vom Col delle Cavalle doch noch mit heiligem Wasser das Kreuzzeichen zu erteilen, sonst hätten sie auch ihn aufgehängt. Doch auch Giulin Sesto wurde dann dort begraben, wo schon die verdammten Seelen von Maddalena Mora, Carle dal Bus dal Diaul und allen anderen ruhten, die sich selbst umgebracht hatten.
Am frühen Ostermontagmorgen ging der Priester durchs Dorf, um jedes einzelne Haus zu segnen. Jede Familie gab ihm, was sie konnte, Eier, eine Salami, ein Stück Gämsen- oder Rehfleisch, fünfzig gehäutete Frösche, einen Ricotta und anderen Käse. Wer wenig oder nichts besaß, gab ihm einen Korb mit trockenem Spaltholz, was für sich schon von einigem Wert war. Alles schien im Sinne des Priesters zu verlaufen, der einen Teil der Geschenke an die Ärmeren weitergab, also jenen, die ihm ihrerseits schon einen Korb mit trockenem Spaltholz gegeben hatten.
An diesem Ostermontag kam Don Chino auch zu Raggios Haus. Mein Freund war allein. Ruhig saß er auf seinem Königsthron mit dem Stab in der Hand und der Krone auf dem Kopf und blickte wortlos nach vorn in Richtung Berge, hin zu seinen Dämonen. Auf die Frage des Priesters, wo seine Frau sei, antwortete er, sie sei zum Feld auf den Baèrt gegangen, um die Erde umzugraben und für die Saat vorzubereiten. So erzählte es jedenfalls der Priester.
Darauf erhob sich Raggio, grüßte Don Planco und die Messdiener mit ihren bereits gut gefüllten Körben und bereitete sich für die Segnung seines Hauses vor. Der Priester forderte ihn auf, während der Segnung seine Königskrone abzusetzen, da Gott über ihm wie über allen Königen der Erde stünde. Raggio gehorchte,
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