Im Tal des Vajont
Kind geboren werden, und wieder einmal werde ich es nicht zu Gesicht bekommen.
Ich werde es nicht sehen, weil ich beschlossen habe, nicht mehr leben zu wollen, nach dem, was ich am 19. dieses Monats Juli gesehen habe.
Am 19. war ich vom großen Gutshaus aufgebrochen, um eine Tour mit meinem fast leeren Karren zu unternehmen. Nachdem sie mir gesagt hatte, sie sei schwanger von mir, besuchte ich oft die Dörfer im Umkreis, um mich selbst loszuwerden, weil ich, wie gesagt, zwar auch ein wenig glücklich war über das Kind, zugleich aber jagte das Leben mir eine schreckliche Angst ein.
Ich fühlte mich ganz entmutigt und erschlagen von Gewissensbissen für das, was ich Raggio angetan hatte. Und dazu doppelt verzweifelt im Wissen, dass ich mir nicht die geringste Hoffnung machen konnte, jemals mit ihr zu leben. Sie hatte ihre Familie, zwei Kinder, bald drei, ihren Ehemann und alle Verwandten und Schwager, wie konnte ich da erwarten, dass sie bei mir bliebe. Aber auch wenn sie es gewollt oder gekonnt hätte oder mit mir irgendwohin hätte fliehen wollen, ich selbst hätte es nicht gewollt, weil ich schon einmal eine Familie zerstört hatte, und sicher würde ich nicht noch eine weitere zugrunde richten. Einmal kann das ja passieren, aber kein zweites Mal. Und dann waren da immer diese Gewissensbisse, die mir unentwegt sagten, es sei mir verboten, Pläne zu machen. Dabei blieb mir immerhin noch die kleine Freude, ein Kind zu haben, und das reichte mir, um mich durch die Tage zu geleiten.
Mit solchen Gedanken im Kopf zog ich meinen Karren an diesem 19. Juli in Richtung auf das Dorf Camino al Tagliamento.
Es war so heiß, dass einem der Atem stockte, und immer wieder hielt ich am Straßenrand, um mir den Schweiß abzuwischen. Ganz langsam erreichte ich schließlich das Dorf. Ringsum war alles wie ausgestorben, bis auf ein paar vereinzelte Bauern, die Pfeife rauchend vor der Tür saßen. Schon einmal war ich durch Camino al Tagliamento gekommen, hatte mich da aber nur kurz aufgehalten, gerade so lange, um in einer kleinen Osteria am Ortsplatz ein Viertel Wein zu trinken.
An diesem Tag, dem 19. Juli, stellte ich den Karren auf einem kleinen Platz ab, lud mir einige Nudelhölzer und Salzstößel in den Korb und begann meine Tour durch das leere Dorf, in dem bei der großen Hitze alle zu schlafen oder tot zu sein schienen.
Es wird wohl gegen zwei Uhr Nachmittag gewesen sein. Da die Leute, wenn ich rief, nicht aus ihren Häusern kamen, ging ich selbst hinein, um zu sehen, ob nicht irgendeine gute Seele mir ein Nudelholz oder einen Salzstößel abkaufen würde. Vor allem aber suchte ich die Kühle der Häuser, und ich wechselte gern ein paar Worte mit den Leuten, die sich etwas Ruhe nach der Feldarbeit gönnten.
Ich beneidete diese Menschen, die nicht meine Gedanken hatten, denn sie hatten sicher niemanden getötet und wurden daher auch nicht von solchen Gewissensbissen gequält, die mich wie Hunde von innen her auffraßen. Gewiss kannten auch sie Reuegefühle, aber nicht, weil sie einen Menschen, der dazu ein Freund war, getötet hätten. Zumindest hoffe ich das.
Wie schön wäre es gewesen, die Zeit zurückdrehen zu können bis vor jenen vermaledeiten 30. September, als ich noch nicht das getan hatte, was ich dann tat. Wenn es einem gut geht, sollte einem dieses Gefühl teuer genug sein, um es zu schützen und zu bewahren. Aber wenn es einem gut geht, ist man sich dessen nicht bewusst, bis etwas geschieht, was es uns begreifen lässt.
Doch dann ist es schon zu spät, und es gibt kein Zurück mehr. Man müsste sofort erkennen, dass man besser keinen Schritt in eine Richtung macht, von der es keine Rückkehr mehr gibt. Und das macht den Schmerz im Leben aus: zu wissen, dass man das Glück in den Händen hielt, es dann für eine unbedeutende Sache wegwarf und es nun nicht mehr zurückkommt.
Und dabei muss ich jetzt auch an meinen Bruder Bastianin denken. Musste er nach Jahren noch den aus Valdapont umbringen? Hätte er es nicht einfach gut sein lassen können und alles vergessen? Seine Arbeit tun, frei und Herr seines Schicksals? Nein, er musste den töten, der seine Geliebte mit der Tollkirsche vergiftet hatte, und jetzt saß er in Udine im Gefängnis, und sicher voller verzweifelter Reue.
In meinem Fall war es allerdings anders, ich musste mich verteidigen, doch schließlich war ich selbst der Grund dafür, denn hätte ich nicht die Geschichte mit seiner Frau angefangen, dann hätte Raggio mir auch nichts getan, im
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