Im Tal des wilden Eukalyptus
Jahre in der Zeit zurückversetzt. Damals war sie mit ihrem Ehemann hier gewesen. Und mit Duncan, der als Sträfling ihre Kutsche gelenkt hatte.
Sie stieg hinter Elizabeth aus der Kutsche und wäre doch am liebsten sitzen geblieben, denn plötzlich hatte sie Angst vor dem, was sie erwartete. Dann zog sie die Schultern zurück und schritt an Duncans Arm auf den Eingang zu, mit kleinen Schritten, damit der Kleidersaum ihre abgetragenen Schuhe verdeckte. Für neue Schuhe war kein Geld da gewesen.
Ob McIntyre heute Abend auch kommen würde?, fragte sie sich mit plötzlichem Unbehagen. Sie und auch Duncan hatten ihn lange nicht mehr gesehen, denn ihre monatliche Zuwendung erhielt Moira mittlerweile über einen Mittelsmann in Parramatta. Dann fiel ihr Blick auch schon auf die krummbeinige Gestalt im dunklen Rock. McIntyre zuckte sichtbar zusammen, als er Moira und Duncan erblickte, und wandte sich dann hastig wieder seinem Gesprächspartner zu: dem feisten Reverend Marsden â einem weite ren von Wentworths Gästen, auf dessen Gesellschaft Moir a nicht den geringsten Wert legte. Kurz darauf entdeckte sie Gouverneur King und William Penrith, den Lagerverwalter von Toongabbie, der den Bauch einzog und fortwährend nickte, während der Gouverneur ihm etwas zu erklären schien. In ihrer Nähe stand eine Gruppe von Damen, unter ihnen die korpulente Mrs Zuckerman, die ein Glas mit Bowle in der Hand hielt und sichtlich angetan das üppige Büfett betrachtete. Als sie Moira sah, verzog sie hochmütig ihren kleinen Mund und straffte ihr Doppelkinn.
»Ich verstehe nicht, wieso diese unmögliche Person hier auftauchen darf«, vernahm Moira ihre nicht eben leise geäuÃerte Empörung.
»Mrs McIntyre, Mr OâSullivan, ich freue mich sehr, Euch zu sehen!«, vernahm sie dann eine freundliche Stimme. Sie atmete auf, als Anna King, die Frau des Gouverneurs, auf sie zukam. Ihrem strahlenden Gesicht nach war ihre Freude tatsächlich echt.
Ihr Kleid aus cremefarbenem Musselin war von raffinierter Schlichtheit, mit hoher Taille und kurzen Ãrmeln und mit winzigen, aufgestickten Blüten versehen. »Nicht doch« , wehrte sie ab, als Moira knicksen wollte, und reichte ihr stattdessen die Hand. Dann wandte sie sich an Duncan. »Ich werde nie vergessen, Mr OâSullivan, was Ihr für meine kleine Tochter getan habt. Sie fragt heute noch manchmal nach Euch. Und nach Eurem Freund, Mr Fitzgerald. Wisst Ihr, was aus ihm geworden ist?«
Erneut staunte Moira über das Namensgedächtnis dieser Frau â Mrs King erinnerte sich tatsächlich noch an den Namen des hünenhaften Sträflings, der ihr gemeinsam mit Duncan bei einem Aufstand geflohener Sträflinge beigestanden hatte. Duncan hatte auÃerdem die Gouverneurstochter vor einem schlimmen Schicksal bewahrt, als er sie aus einem Fenster im Obergeschoss der Gouverneursresidenz hatte entkommen lassen.
»Nein, Madam«, gab Duncan höflich zurück. »Leider habe ich nichts mehr von ihm gehört.«
Er verschwieg, was Moira und er vermuteten: dass Samuel Fitzgerald bei dem Versuch, verwundet und in einem nicht hochseetauglichen Boot übers Meer zu flüchten, ertrunken war.
Mrs King nickte bedauernd. Bevor eine peinliche Stille entstehen konnte, fragte sie, ob Moira und Duncan sich gut eingelebt hätten, erzählte ihnen von der neuen Einrichtung in der Residenz des Gouverneurs und plauderte zwanglos über das Wetter, ohne damit nur ein heikles Thema zu streifen. Die Gouverneursgattin wusste, wie man gesellschaftliche Klippen umschiffte.
»Ach, Gouverneur King«, hörte Moira dann Mrs Zuckermans Stimme aus dem Gewirr von Geräuschen heraus, »wir sind ja alle so erleichtert, dass dieser schreckliche Wilde tot ist. Endlich kann man sich wieder auf die StraÃe wagen, ohne befürchten zu müssen, verschleppt oder getötet zu werden. Ihr seid sicher sehr glücklich darüber.«
»Nun ja«, sagte Gouverneur King und rieb sich über seine breite Stirn, »in gewisser Weise habe ich Pemulwuy geschätzt.«
Mrs Zuckerman sah aus, als hätte sie sich an einem Bratenstück verschluckt. »Ihr scherzt, Gouverneur.«
King schüttelte den Kopf. »Nein, Mrs Zuckerman. Ich kannte ihn schlieÃlich persönlich, und ich kann sagen: Auc h wenn Pemulwuy für die Kolonie eine furchtbare Plage darstellte, so war er doch ein tapferer und unabhängiger
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