Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
zurück. Zum Glück hatte sie ihren Sonnenschirm mitgenommen. Mit halb geschlossenen Augen beobachtete sie die Ruderer.
Die meisten Krieger trugen nicht viel mehr als einen Schurz, bestehend aus einem breiten, bunt bestickten Stoffstreifen, von dem Flachsfransen oder Federn herabhingen und die Tätowierungen an den Beinen kaum verdeckten. Ihr Haar war zu Knoten gewunden, in denen Federn verschiedener Vögel steckten und die mit jeder Bewegung auf und ab wippten.
Nur ein Mann, ein Christ, der von Father Blake den Taufnamen Jacob erhalten hatte, trug lange Hosen wie ein Europäer, doch auch er schützte seine breiten Schultern mit einem Kragen cremefarbener Federn, fein wie ein Schleier.
Mittlerweile war Johanna die Nacktheit der Wilden nicht mehr unangenehm. Ja, sie genoss es sogar, ihre starken Rücken zu betrachten, die sich zu einem steten Rhythmus bewegten.
Das Kanu hielt sich relativ nahe am Ufer. Von der Wasserseite sah der Wald unberührt und undurchdringlich aus. Eine grüne Wand, in der es knisterte und zwitscherte, in der wilde Tiere umherstreiften und Vögel, die nicht fliegen konnten, über den Waldboden rannten. Wenn ihr jemand erzählt hätte, dass dort Drachen hausten, hätte Johanna es bereitwillig geglaubt.
Auf der anderen Seite des Sees, dort, wo die Luft ein wenig dunstig schien, war Thomas. Thomas und sein Sägewerk und eine kleine Armee von Männern, die unablässig Bäume fällten und Sträucher niedermachten, als gelte es, einen Krieg gegen die Natur zu gewinnen.
Leises Bedauern schlich sich in Johannas Gedanken, wenn sie die neu gerodeten Flächen mit dem Urwald auf dieser Seite verglich. Sicher, das undurchdringliche Grün nutzte niemandem etwas, doch es besaß seine eigene, urtümliche Schönheit.
Jetzt war sie in jedem Fall froh, sich nicht über schlammige Waldwege kämpfen zu müssen. Wie angenehm war es doch, in einem Kanu zu reisen. Johanna rutschte ein wenig näher zum Bootsrand und ließ die Hand durch das Wasser gleiten.
Mit nassen Fingern fuhr sie die Schnitzereien an der Außenseite des Kanus nach. Bögen, Schlangen und auf faszinierende Weise ineinander verknotete Körper mit drohenden Fratzengesichtern.
Als sie wieder aufsah, lächelte Hariata sie an.
» Diese Boote sind echte Kunstwerke, ich wünschte, ich könnte solch eines meinem Vater schicken. Er würde es mitten im Salon aufstellen, damit jeder es sehen kann. «
Johanna stellte sich das Gesicht ihrer mürrischen Mutter vor, die eines Morgens ein riesiges Eingeborenenboot in ihren heiligen Hallen entdecken würde, und musste lachen.
» Vor vielen Jahren sind auch wir, die Maori, über das Meer hierher nach Aotearoa gekommen « , erklärte Hariata.
» Auf solchen Booten? « Johanna mochte es kaum glauben.
» Na, die Waka von damals waren schon etwas größer. Möchten Sie die Geschichte hören? «
» O ja, bitte! «
Johannas Freundin warf einen kurzen Blick auf Father Blake, der am anderen Ende des Kanus saß. Sein Kopf war nach vorn gesackt, die Augen geschlossen. Er schlief tief und fest. Und selbst wenn nicht, so hätte er die Frauen wohl kaum gehört. Zwischen ihnen saßen die Ruderer und stießen rhythmisch die Paddel ins Wasser.
Hariata war eine meisterhafte Geschichtenerzählerin. Während Johannas Blick sich in den schimmernden Wellen verlor, die das Kanu ins Wasser malte, erwuchs vor ihrem inneren Auge eine Traumwelt: Die Geschichte der Maori.
» Vor vielen, vielen Generationen in einem Land, das Hawaiki genannt wird, lebte ein mächtiger Mann namens Kupe. Er war der Anführer eines großen Stammes, doch er war nicht glücklich. Er begehrte eine Frau, die er nicht haben konnte. Kuramarotini war schön wie der Morgen, fleißig und beredt, doch sie war mit seinem Cousin verheiratet. Kupe nun ersann eine List. Er lud seinen ahnungslosen Cousin zum Fischen ein, und als er weit draußen auf dem Wasser war, wo ihn nur die Götter und die Ungeheuer sehen konnten, erschlug er seinen Cousin und warf ihn aus dem Boot. Die List gelang, und der Mann ertrank.
Kupe kehrte in das Dorf zurück und raubte Kuramarotini . Wer weiß, vielleicht ging sie auch freiwillig mit ihm, das spielt nun keine Rolle mehr. Der tote Cousin besaß ein Kanu. Ein gewaltiges, mächtiges Boot, das schon vielen Gefahren getrotzt hatte. Dieses Boot belud Kupe und fuhr davon. Es war eine abenteuerliche Reise. Ungeheuer und Seeschlangen griffen das Liebespaar an, Stürme versuchten, das Waka zum Kentern zu bringen, doch sie hatten gutes
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