Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
auch schon vorbei und draußen.
Der Hengst stürmte den Weg hinunter und die nächste Anhöhe hinauf. Er kannte nur noch einen Gedanken, weg! Fort von dem Ort, mit dem er nur noch Angst und Schmerz verband.
Die Nacht war stockfinster. Wie archaische Trommelschläge dröhnten die Hufe über den Kies. Die restlichen Pferde folgten Johanna. Sie sah sich immer wieder um, doch Star war nicht dabei.
Als der Hengst endlich auf einer Kuppe hielt, wischte sie sich über die tränenden Augen. Unter ihr im Tal brannten die Stallgebäude lichterloh. Noch immer flohen Tiere aus dem Inferno. Schafe mit brennender Wolle taumelten wie Leuchtkäfer die Wiesen hinauf. Manche erloschen, andere brannten weiter und blieben irgendwann liegen.
Die Siegesschreie der Maori gellten meilenweit. Ihre Gestalten zeichneten sich schwarz wie Scherenschnitte vor dem Feuer ab.
Es war aus, alles aus.
Thomas war tot. Lag irgendwo dort unten mit zerschmetterten Gliedern. Johanna schluchzte trocken auf. Tränen hatte sie keine mehr. Der Horror der letzten Stunden und der beißende Qualm hatten sie versiegen lassen. Es gab nicht genug Tränen für all die Toten.
Stundenlang saß sie auf dem Rücken von Earl und sah hinab, auf das, was die Zukunft hätte sein sollen.
Johanna hatte alles verloren. Erst ihre große Liebe, ihre Heimat und ihren ungeborenen Sohn und nun ihr Heim und ihre Zukunft. Es war ungerecht, dass sie als Einzige überleben sollte. In diesem Moment wünschte sie sich den Tod.
Langsam kroch die Morgensonne über das Land. Brachte eine Tarnkappe aus Nebel mit, wie sie Verräter trugen, und deckte das Grauen zu.
Johanna hatte einen Entschluss gefasst. Sie würde ins Tal hinunterreiten zu den siegreichen Maori und Thomas’ Körper holen. Alles konnten sie haben. Das Haus, die Möbel, ihr Tafelsilber, die Vorräte, alles, nur ihn nicht. Er sollte ein christliches Begräbnis erhalten, das war das Letzte, was sie für ihn tun konnte. Damit endete ihre Pflicht als Ehefrau, und sie würde nach England zurückkehren.
Johanna knotete ihren Gürtel als zweiten Zügel um das Halfter des Shire-Hengstes, um ihn besser lenken zu können. Die ganze Nacht hatte sie auf seinem Rücken verbracht. Abzusteigen wagte sie nicht. Das Tier war zu groß, um ohne Hilfe wieder hinaufzukommen, und vielleicht wäre es auch davongelaufen.
Im zunehmenden Licht der Morgensonne erkannte sie erst, wie schwer Earl verwundet war. Ein Großteil der Mähne fehlte, an Hals und Schulter waren breite Flächen verbrannt.
Sie wedelte die Fliegen fort, die mit den steigenden Temperaturen aus dem Gras aufflogen und sich auf die nässenden Wunden setzen wollten.
Langsam ritt sie den Berg hinab.
Das Haupthaus stand noch. Die weiße Fassade war teils grau vor Ruß, die Fenster eingeschlagen, Splitter der Eingangstür verteilten sich über die Veranda und den Garten.
Die Weiden auf der Seeseite lagen friedlich da, nur hier und dort sah sie tote Schafe. Die Tiere waren dem Feuer entkommen und doch kurz darauf verendet.
Johanna sah noch einmal nach, ob der Revolver in ihrer Hand geladen war, tat es wohl zum zehnten Mal.
Schritt für Schritt kämpfte sich der Hengst den Hügel hinab, rutschte mit den großen Hufen immer wieder aus und gab dann ein gequältes Ächzen von sich.
Johanna sprach dem Tier gut zu und trieb es weiter. Sie musste vorsichtig sein, um nicht zu früh entdeckt zu werden, und hielt sich im Schutz von Büschen und niedrigen Bäumen, die entlang eines schmalen Wasserlaufs gediehen. Stimmen klangen von ferne her und wurden leiser.
Aus ihrer Deckung heraus erspähte sie einen großen Trupp Maori-Krieger, die in Richtung Sägewerk davonzogen. Einige trugen Fackeln bei sich, und es war unschwer zu erkennen, was sie planten. Die Stunden des Sägewerks waren gezählt.
Der Hengst scheute vor den rauchenden Holzskeletten, die von den Stallgebäuden übrig geblieben waren, und riss den Kopf hoch. Mit weit geblähten Nüstern schnaubte er warnend. Doch Johanna drängte ihn beharrlich vorwärts, bis sie vor dem ehemaligen Tor anhielten.
Der Hof lag wie ausgestorben da. Keine Menschenseele weit und breit. Aufgedunsene, schwarze Kadaver lagen unter den Trümmern. Sie sah ein Fohlen, die Überreste von ihrer geliebten Stute Star und immer wieder Schafe. Star, auch sie war nicht mehr. Innerlich seltsam leer nahm sie alles zur Kenntnis, als hätte sich eine dicke Watteschicht zwischen ihr Herz und die Außenwelt geschoben.
» Hallo? Ist hier jemand? « , rief sie.
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