Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
an dem Thomas ihr eröffnet hatte, dass sie England verlassen würden. Es war nur sechs Wochen nach ihrer Hochzeit gewesen, und die Mitteilung hatte sie wie ein Schlag getroffen. Sie glaubte Thomas keinen Moment lang, dass er nur wegen eines guten Geschäfts ans andere Ende der Welt zog. Es steckte mehr dahinter, doch was, fand sie auch nicht in den acht Monaten heraus, die sie nach seiner Abreise, und bevor sie selbst aufbrach, im Haus ihrer Eltern verbrachte.
» Eine Fabrik. « Abigail nickte anerkennend. » Da sind Sie sicher stolz auf Ihren Ehemann. «
Johanna schluckte.
» Manchmal muss man heiraten, um aus einer Sache rauszukommen… «
September 1844
London
L iam blieb weiterhin wie vom Erdboden verschluckt. Offensichtlich war ihm auf dem Ball klar geworden, dass er Johanna nicht haben konnte. Dass er nicht einmal versuchte, mit ihrem Vater zu sprechen, und so gar nicht bereit schien, um sie zu kämpfen, löste in Johanna bittere Enttäuschung aus.
Liam war wohl doch nicht der, für den sie ihn gehalten hatte. Wenn sie an ihn dachte, mischte sich jedes Mal Wut in ihre Sehnsucht. Der Anstand hätte es verlangt, ihr zumindest einen Abschiedsbrief zu schreiben, statt sich feige davonzustehlen.
Die Hochzeit mit Thomas Waters war nun nicht mehr abzuwenden. Tief enttäuscht fügte sich Johanna in ihr Schicksal, ihre Familie vor dem finanziellen und gesellschaftlichen Niedergang zu bewahren.
Die Wochen nach dem Ball verbrachte sie in einem Zustand resignierter Gleichgültigkeit.
Mit der Enttäuschung im Herzen war es ihr leichtgefallen, Thomas’ Werben endgültig nachzugeben und ihm ihre Hand zu versprechen. Der Moment, in dem sie Liam die Wahrheit sagen musste und vor dem sie sich so gefürchtet hatte, war nicht gekommen. Vielleicht hat er auch eine andere vorgezogen, dachte sie traurig. Ganz gleich, was geschehen war, es spielte keine Rolle mehr. Johanna würde beweisen, was für eine gute Tochter sie war, und einen reichen Fabrikanten ehelichen.
Ihre Eltern waren zufrieden. Sie mussten nicht wissen, dass Johanna jeden Abend weinte und ihr Schicksal verfluchte.
Die Hochzeit rückte erschreckend schnell näher. Eltern und Verlobter waren sich einig, die Feierlichkeiten möglichst bald abzuhalten. Es verging kaum ein Tag, an dem Thomas sie nicht besuchte, ihr ein kleines Präsent vorbeibrachte und ihre gemeinsame Zukunft in den schönsten Farben ausmalte. Johanna gab sich Mühe, ihr Schicksal anzunehmen, und langsam, ganz langsam erkämpfte sich ihr Verlobter einen kleinen Platz in ihrem Herzen. Lieben konnte sie ihn nicht, aber achten und die Gefühle wertschätzen, die er ihr entgegenbrachte.
Und dann war der Tag gekommen. Wie in Trance erlebte Johanna die letzten Stunden vor der Hochzeit. Bereits am frühen Morgen begannen zahlreiche Helferinnen, sie in eine wunderschöne Braut zu verwandeln. Johanna nahm alles wie von einer hohen Warte aus wahr, ihr Körper war zu einer Puppe geworden, die angezogen, geschmückt und gepudert wurde.
Eine weiße Kutsche, von zwei Schimmeln gezogen, holte sie ab. Unter den Augen der Nachbarn und zahlreicher Zuschauer bestieg Johanna das Gefährt, und der Schleier verwandelte die Welt in ein Reich aus bunten Schatten. Sie klammerte die Hände um den Brautstrauß und kämpfte gegen die Tränen.
» Wir sind stolz auf dich « , murmelte Anthony Chester. Sie glaubte, Scham aus den Worten herauszuhören, und nickte schnell, dann verlor sie den Kampf gegen die würgende Trauer in ihrem Hals und bat ihren Vater um ein Taschentuch.
Als sie die All Souls Church an der Regent Street im Stadtteil Marylebone erreichten, waren Johannas Tränen getrocknet. Die ganze Hoffnung ihrer Eltern lag nun auf ihr. Und sie würde sie nicht enttäuschen. Unter den Augen zahlreicher Gäste, von denen sie nur die wenigsten kannte, schritt sie am Arm ihres Vaters in die Kirche. Goldene Doppelsäulen ragten hinter dem Altarraum auf. Sonnenlicht, durch die Glasfenster bunt eingefärbt, glänzte feierlich auf den fein getriebenen Lüstern und den Marmorfliesen.
» Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du glücklich wirst, mein Kind « , flüsterte ihr Anthony Chester mit bebender Stimme ins Ohr. Die Orgel dröhnte ein feierliches Lied. Schwer wie Steine senkten sich die Töne auf Johannas Schultern und drückten sie nieder. Sie hatte das Gefühl, mit jedem Schritt zu schrumpfen.
Thomas Waters stand vor dem Altar. Er trug einen perfekt geschnittenen dunkelgrauen Gehrock, seine
Weitere Kostenlose Bücher