Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
In Windeseile verpackte sie Pastetchen, Trockenobst, Brot und Schinken in eine Serviette, dann entledigte sie sich des Morgenrocks.
Sie schlüpfte aus der Tür und war schon Augenblicke später an den Treppen zu den Unterdecks.
Die kleinen Ausflüge waren ihr fast schon zur Routine geworden. Abigail erwartete sie sicherlich schon unten bei Star, die wieder vollständig genesen war.
Mittlerweile kannte Johanna ihren Weg genau. An den Passagierdecks traf sie hin und wieder auf überraschte Männer der Bootsbesatzung, die ihr freundlich wieder den Weg nach oben weisen wollten. Im Frachtraum bei den Tieren kannte sie jeder. An diesem Tag war es wieder Ronny, der die Pferde und Schafe versorgte.
» Abigail wartet schon auf Sie, Ma’am « , begrüßte er sie fröhlich. Johanna steckte dem Jungen einen kleinen Kuchen zu, den dieser sofort gierig verschlang.
Die Irin stand tatsächlich schon an ihrem Treffpunkt und streichelte gerade einer der Shire-Stuten den Kopf.
Johanna begrüßte sie, steckte ihrem eigenen Pferd ein Stückchen trockenes Brot zu und lud Abigail dann ein, die mitgebrachte Mahlzeit mit ihr zu teilen.
» Ein wenig frische Luft täte gut. «
Sie führte Johanna über verschlungene Pfade zu einem kleinen Ladebereich. Zwischen Kisten und Rettungsbooten setzte sich jede auf ein zusammengerolltes Tau, und sie teilten sich die Mahlzeit, während über ihnen Sturmvögel segelten und neugierig zu ihnen hinabsahen.
Abigail aß andächtig das weiche, weiße Brot, das Johanna mitgebracht hatte, als sei es das Beste, was man ihr je vorgesetzt hatte. Dabei starrte sie auf das Meer hinaus, die Augen aufgerissen und ohne Fokus, im Geist ganz weit weg. Vermutlich dachte sie an daheim.
Johanna wollte sie nicht stören und schwieg.
» Aus dem Mehl, das ich damals gestohlen habe, hätte man sicherlich auch so wunderbares Brot backen können « , sagte Abigail schließlich wehmütig und strich einige rote Strähnen zurück, die sich aus dem Zopf gelöst hatten.
» Welches Mehl? « , erkundigte sich Johanna zögernd. Bislang hatte Abigail nie etwas aus ihrer Zeit vor der Reise erzählt, ebenso wie Johanna. Es war eine Art stille Übereinkunft.
» Ich habe einen kleinen Sack gestohlen, vier Pfund Mehl, deshalb bin ich hier. Deshalb habe ich zwei Monate im Gefängnis gehockt und werde in die Verbannung geschickt. Weil ich nicht mehr mit ansehen konnte, wie meine Eltern hungerten. «
Johanna starrte sie entsetzt an. Plötzlich schmeckte ihr die Pastete nicht mehr, die sie gerade noch mit Genuss gegessen hatte.
» O Gott, das tut mir schrecklich leid. War es wirklich so schlimm? Ich habe nur gehört… «
Abigails Blick verfinsterte sich.
» Schlimm? Es war die Hölle. In Killeaghy haben wir beinahe jeden Tag ein Kind zu Grabe getragen. Die kamen mit dem Schaufeln gar nicht mehr nach, so viele waren es. «
Mit Entsetzen dachte Johanna an die Ländereien der Chesters. Killeaghy lag nicht weit weg. Ob es dort auch so schlimm zugegangen war? Sie hatte nur schöne Erinnerungen an den Landsitz und die vielen einfachen, aber freundlichen Menschen, denen sie dort begegnet war.
» Hat der Verwalter euch denn nicht beigestanden? Man kann seine Pächter doch nicht einfach so verhungern lassen! «
» Anscheinend geht das schon. Und denken Sie nicht, es sei bei anderen besser gewesen. «
Johanna wollte nichts mehr davon hören. Zu grauenhaft war die Vorstellung, dass ihr Vater so etwas auch zugelassen hatte.
» Was passiert mit dir, wenn wir angekommen sind? «
Abigail zog die Knie an und sah zwischen der Ladung aufs Meer hinaus.
» Sie stecken mich wieder ins Gefängnis, wenn ich keinen Siedler finde, der mich heiratet. «
» Willst du heiraten? «
Abigail schüttelte den Kopf.
» Nein, aber ich muss wohl. Ich ertrage es nicht länger, eingesperrt zu sein. «
Johanna sah sie mitleidig an.
» Gibt es keine andere Möglichkeit? «
» Ich müsste eine Anstellung finden und einen Bürgen « , sagte Abigail, und dann leuchteten ihre Augen plötzlich hoffnungsvoll auf. Johanna verstand sofort.
» Ich kann nichts versprechen, aber es würde mich freuen, wenn du bei uns arbeiten würdest. Die einzige Hürde ist Arthur, aber den überzeuge ich schon. «
» Danke, Ma’am. « Abigail schüttelte ungläubig den Kopf, lächelte und richtete ihren Blick wieder aufs Meer. » Warum fahren Sie nach Neuseeland? « , erkundigte sie sich nach einer Weile.
» Mein Mann baut dort eine Fabrik. « Johanna dachte an den Tag zurück,
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