Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
Fenster fiel ein Streifen helles Morgenlicht in das Zimmer, und langsam dämmerte ihr, dass sie noch immer die Reisekleidung vom Vortag trug. Sie konnte doch nicht so lange geschlafen haben.
» Mrs Waters? « , erklang Abigails zögerliche Stimme.
» Ja, ich bin wach. «
Johanna setzte sich auf und zerrte einige Haarnadeln aus ihrer verrutschten Frisur, die offensichtlich die ganze Nacht ihre Kopfhaut malträtiert hatten, und ließ sie auf das Kopfkissen fallen.
Abigail trat ein, sah sich neugierig um und brachte Johanna einen dampfenden Holzbecher, aus dem es nach Pfefferminze duftete.
» Geht es Ihnen wieder besser? «
» Ja, ja, sicher. Mein Gott habe ich wirklich so lange geschlafen? «
Abigail nickte eifrig. Ihr Lächeln wirkte unsicher. Sie ging geschäftig durch das Zimmer, begann Kleidung zusammenzulegen, die Johanna nicht mehr weggeräumt hatte, und schüttelte die Kissen auf.
Johanna war froh, dass Abigail sie nicht auf den Streit vom Vortag und die beschämende Ohrfeige ansprach. Sie hielt das Gesicht über die Tasse und genoss, wie sich der aufsteigende Dampf schmeichelnd auf ihre Wangen legte.
» Wo hast du die Minze her, Abigail? Der Tee ist wunderbar. «
» Hinter dem Haus ist ein Garten, er ist völlig verwildert, aber man findet dort so einiges. Es wird eine Höllenarbeit, den wieder herzurichten, aber dann werden wir im Luxus leben. Kartoffeln, Rhabarber, Johannisbeeren, Kohl, Zwiebeln, alles da. Aber erst mal müssen wir uns um die Schafe kümmern. Zwei Lämmer sind schon geboren, die nächsten können jeden Moment kommen, und es ist noch nichts vorbereitet, dann… «
Johanna konnte nicht anders, sie musste lachen.
Abigail hielt in ihrer Arbeit inne und legte erschrocken die Hand auf den Mund. » O Gott, es tut mir leid. Ich wollte mich nicht einmischen. Sie sind die Hausherrin, es sind Ihre Entscheidungen, ich hab nur gestern gesehen… hier ist so viel zu tun. «
» Nein, so war es nicht gemeint. Abigail, du weißt viel besser, was auf einem Hof alles anfällt. Ich kann allenfalls ein paar Damen zum Tee einladen und ihnen meine neuesten Stickarbeiten zeigen, aber noch nicht einmal das Gebäck für meine Gäste könnte ich selber backen. «
Jetzt musste auch die Irin lächeln.
» Ich glaube, hier sind meilenweit keine feinen Damen zu finden, und schwarzer Tee auch nicht. «
» Ich hab noch nie ein neugeborenes Lamm gesehen « , gestand Johanna.
» Das glaube ich nicht! « Abigail stützte die Hände in die Hüften und schüttelte ihre feuerrote Mähne. » Dann müssen wir das dringend ändern! «
Johanna war sehr erleichtert, dass Thomas das Haus schon früh am Morgen verlassen hatte. Der grimmige Arthur war mit ihm gegangen.
Abigail plapperte fröhlich vor sich hin, während sie Johanna ein schlichtes Frühstück aus Haferbrei und Trockenwurst vorsetzte. Im Gegensatz zu Johanna hatte sie ihr neues Domizil bereits ausgiebig erkundet und im Kopf scheinbar schon eine lange Liste an Aufgaben zusammengestellt, die es zu erledigen galt. Sie schienen gar kein Ende zu nehmen, und Johanna stellte mit Bedauern fest, dass sie keine Ahnung davon hatte.
Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, während die Irin zur Eile drängte. Wer wusste schon, wie heftig die Winter an diesem gottverlassenen Ort ausfielen und wie lang der Sommer dauerte.
» Es ist doch gerade erst Frühling geworden « , protestierte Johanna halbherzig und fühlte sich wieder einmal so unglaublich dumm und nutzlos, dass sie sich für einen kurzen Moment wünschte, als Bäuerin geboren worden zu sein.
Kurz darauf betrat sie den winzigen, fensterlosen Stall, dessen morsches Dach allerdings so viele Löcher aufwies, dass es durch das hereinfallende Sonnenlicht hell genug war. Zwischen allerlei Rädern und Gerät, deren Funktion Johanna sich beim besten Willen nicht erklären konnte, entdeckte sie einen kleinen Bretterverschlag, in dem zwei zottige Mutterschafe mit zwei Lämmern waren. Die Jungtiere lagen eng aneinandergekauert und hoben die Köpfe, als Johanna und Abigail näher traten.
» O Gott, sind die winzig « , rief Johanna aus, da war Abigail auch schon im Verschlag, stieß resolut das Muttertier zur Seite, das ihr mit den Hörnern drohte, griff eines der Lämmer und reichte es Johanna.
Diese zögerte, wusste nicht, wie sie das kleine Geschöpf mit den schlaksigen Beinen anfassen sollte, ohne ihm wehzutun.
» Jetzt nehmen Sie schon « , lachte die Irin, » die sind nicht aus Glas. «
Johanna schloss ihre
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