Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
Arme um das blökende Lamm und sah sich hastig nach einer Sitzmöglichkeit um. Gar nicht auszudenken, wenn das Tierchen sich freistrampelte und hinunterfiel. Kurzerhand ließ sie sich auf dem Boden nieder und betrachtete das lustig getupfte Gesicht mit den großen Augen, dessen Wimpern eine beneidenswerte Länge hatten.
» Oh, Abigail, du kannst so glücklich sein, dass du auf dem Land aufgewachsen bist « , platzte Johanna heraus und ließ ihre Finger über das seidige Fell gleiten.
» Glücklich? Ja, sicher. Ich kann froh sein, dass ich überhaupt lebe. Mein Bruder und ich sind die Einzigen, die von zwölf Kindern übrig sind. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich mich daheim mal satt gegessen hätte. Wir haben schlimmer gehaust als die Tiere. Wir Pächter waren doch nichts wert. «
Johanna schluckte und fragte sich zum wiederholten Male, ob es ihr Vater auf den eigenen Ländereien anders gehalten hatte.
Abigail starrte auf das Lamm in Johannas Armen, doch es war ihr anzusehen, dass sie im Geiste bei ihrer Familie in Irland war, wo die Hungersnot womöglich noch immer genauso heftig wütete wie bei ihrer Abreise.
» Geben Sie mir den Kleinen wieder, Ma’am, seine Mutter verliert sonst die Nerven. « Wie auf Kommando blökte das Schaf, und das Lamm begann wieder zu zappeln. Johanna erhob sich vorsichtig und stellte das kleine Tier auf der anderen Seite des Gatters hin.
» Hat Thomas die Lämmchen schon gesehen? «
» Mr Waters? « , Abigail zuckte mit den Schultern und verzog abfällig ihren Mund. » Er sagt, ihn interessieren die Schafe nicht. Die Tiere waren schon hier, als er den Hof gekauft hat. Der Vorbesitzer hat sie zurückgelassen. Die laufen hier herum und schlagen sich durch, wenn sie nicht einem seiner Arbeiter in die Hände fallen und im Kochtopf landen. «
Sie grub die Hände in den dichten Pelz des Mutterschafs. » Das sind keine Schafe zum Essen! Die Wolle bringt ein Vermögen! «
» Mein Mann ist kein Bauer, Abigail, er ist Fabrikant. Und ich… «
» Ich könnte mich um sie kümmern, bitte. Ich vernachlässige auch meine andere Arbeit nicht. Eine kleine Schafzucht, das habe ich mir immer gewünscht. Sie könnten die Wolle verkaufen, Mrs Waters! « , flehte Abigail.
» Ich denke darüber nach. «
Johanna starrte in die merkwürdigen hellen Augen des Mutterschafs. Abigails Idee gefiel ihr. Vielleicht konnten sie noch jemanden für die schwerere Arbeit anheuern, und sie selbst könnte sich um die Organisation des Haushaltes kümmern. Wenngleich sich die Farm kaum mit ihrer Stadtvilla in Marylebone vergleichen ließ. Statt Empfänge zu organisieren, würde sie mit Wolle handeln, warum nicht.
» Ist das ein gutes Land für die Schafzucht? « , erkundigte sie sich beiläufig. Abigail musterte ihre Herrin irritiert, dann breitete sich langsam ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. » Nicht besser oder schlechter als Irland, würde ich sagen! «
Thomas kam am Abend nicht nach Hause. Ein kleiner Maori-Junge, der als Laufbursche diente, richtete ihr aus, dass ihr Mann in der Fabrik zu finden sei, falls sie ihn suche.
Obwohl Johanna sich durch sein Verhalten gekränkt fühlte, tat es ihr gut, in Ruhe ihre Gedanken zu ordnen, bevor sie sich auf eine erneute Begegnung einließ.
Nach zwei Tagen des Grübelns und mehrerer Rundgänge über die marode Farm, hatte Johanna vor allem eines festgestellt: Nichts von dem, womit sie ihre Eltern und der Privatlehrer auf ihr zukünftiges Leben vorbereitet hatten, konnte sie an diesem Ende der Welt gebrauchen. Sie war als Gesellschafterin erzogen worden. Sie hatte gelernt, einen Haushalt mit vielen Angestellten zu führen, sie verstand es, Gäste mit Konversation und Liedern am Piano zu unterhalten, sprach ein wenig Französisch, weil es zum guten Ton gehörte, und war eine gute Tänzerin. Und nun hatte sie das Schicksal auf eine heruntergekommene Farm verschlagen. An einen Ort, den sie sich nie im Leben hätte vorstellen können. Doch es war nicht Johannas Art, den Kopf in den Sand zu stecken.
Gemeinsam mit Abigail stellte sie eine Liste der Dinge auf, die nun ihren sogenannten Haushalt bildeten. Abgesehen von den Sachen, die sich in den Seekisten befanden, darunter chinesisches Porzellan und kostbare Decken, besaßen sie ein fruchtbares Stück Land und verwildertes Vieh, das Thomas nicht zu interessieren schien. Für Abigail bedeutete es den Himmel auf Erden, Johanna bereitete ihre Lage Kopfzerbrechen.
Doch das Leben musste weitergehen! England lag weit,
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