Im Taumel der Herzen - Roman
sie vorher einmal tief Luft holen musste. »Candice hatte also gar nichts Liebenswertes an sich?«
Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit, atmete seinerseits tief durch und blickte sogar für einen Moment zur Decke empor, ehe er Julia wieder ansah und sagte: »Wenn Charles zurückkommt, kannst du ihn ja fragen, ob er es je geschafft hat, sie ins Herz zu schließen.«
Julia schüttelte den Kopf. »Ich mochte Charles immer sehr gern, aber diese Frage finde ich doch ein bisschen zu persönlich – auch wenn er mein zukünftiger Schwager ist. Ich vertraue da ganz deinem Urteil.«
Er zog eine Braue hoch. »Demnach mochtest du also meinen Bruder, ja?«
Sie musste lachen. »Kein Grund, eifersüchtig zu werden. Warum hätte ich ihn nicht mögen sollen? Er war immer nett zu mir.« Im Gegensatz zu dir, hätte sie am liebsten hinzugefügt, behielt diesen Gedanken aber für sich.
Richard nicht. »Im Gegensatz zu mir.«
»Schsch!«, versuchte sie ihm Einhalt zu gebieten.
»Dein ›Schsch‹ kannst du dir sparen, die ganze Welt weiß doch, wie sehr wir einander damals gehasst haben.«
»Nun übertreibe mal nicht!«
»Also gut, ganz England.«
Er übertrieb immer noch, denn in Wirklichkeit hatten nur ihre beiden Familien und die jeweiligen Dienstboten Bescheid gewusst. Julia war trotzdem nicht so recht klar, warum er ein Thema zur Sprache brachte, über das sie besser nicht hätten diskutieren sollen – zumindest nicht, solange die Wände Ohren besaßen.
Sie begann, sich ein wenig unbehaglich zu fühlen, doch dann milderte Richard das Ganze ab, indem er hinzufügte: »Wir brauchen nicht um den heißen Brei herumzureden, mein Liebling. Diese Dinge gehören schließlich der Vergangenheit
an. Inzwischen empfinden wir ganz und gar nicht mehr so.«
Nein, in der Tat nicht. Dieser Richard hatte nichts Hassenswertes an sich. Genau wie der Mann, zu dem sie sich auf Georginas Londoner Geburtstagsball hingezogen gefühlt hatte, konnte er sehr charmant sein, ja sogar richtig galant. Außerdem besaß er einen wundervollen Sinn für Humor. Und er war ehrenwert. Er hätte nicht hier sein und das alles für sie tun müssen – nur für sie. Aber er stand in ihrer Schuld und machte das auf diese Art wieder gut.
Etwas höchst Erstaunliches kam ihr in den Sinn: Sie mochte diesen Mann. Sehr sogar. Was für ein seltsamer, befremdlicher Gedanke!
38
B ald nach dem Abendessen zog Julia sich auf ihr frisch gereinigtes Zimmer zurück. Sie wollte am nächsten Morgen früh aufstehen, um den Arbeitern Anweisungen zu erteilen, sobald sie eintrafen. Sie und Richard hatten aus mehreren Gründen beschlossen, große Handwerkermannschaften mit ins Herrenhaus zu bringen. Zum einen verlieh das ihren angeblichen Heiratsplänen mehr Glaubwürdigkeit. Zum anderen sorgte es hoffentlich für so viel Wirbel, dass der Graf dadurch abgelenkt wurde – und nicht ständig über sie beide nachdachte. In erster Linie aber lieferte es ihnen einen Vorwand dafür, im Erdgeschoss sämtliche Räume zu betreten, weil sie ja erst darüber entscheiden mussten, welche Renovierungsarbeiten dort nötig waren, bevor die Hochzeitsgäste eintrafen.
Julia saß im Schneidersitz mitten auf dem Bett und kämmte sich das Haar. Für gewöhnlich vollführte sie dieses allabendliche Ritual vor einer Frisierkommode, aber in diesem Raum befand sich kein solches Möbelstück. Sie hatte tatsächlich einen Spiegel mit auf die Liste gesetzt, die sie ihrem Vater zusammen mit einem Brief über ihre Aufnahme in Willow Woods geschickt hatte. Er hatte darauf bestanden, umgehend darüber informiert zu werden. Womöglich würde er trotzdem noch höchstpersönlich auftauchen und Milton die Leviten lesen, falls er sich kräftig genug für eine Reise fühlte, ehe sie ihr
Vorhaben zu Ende geführt hatten. Julia aber hoffte nach wie vor, dass sie und Richard in wenigen Tagen und nicht erst Wochen aus Willow Woods verschwinden konnten.
Nachdem sie an diesem Tag so lange im See herumgetollt waren, hätte sie eigentlich sehr erschöpft sein müssen, doch seltsamerweise fühlte sie sich hellwach. Zu viele Gedanken verlangten nach Aufmerksamkeit, auch wenn Julia sie nach Kräften zu ignorieren versuchte, indem sie genau zählte, wie oft sie mit dem Kamm durch ihr Haar fuhr. Sie war fast bei hundert angekommen, als die Tür aufging.
Julia erstarrte mitten in der Bewegung. Sie war nicht angemessen gekleidet, um Gäste zu empfangen, und schon gar nicht Richard. Trotzdem stand er nun vor ihr – bei ihrem
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