Im Taumel der Herzen - Roman
Meinung, dass der übliche Durchschnittslohn nicht einmal ausreicht, um Schweine satt zu bekommen, geschweige denn Menschen. Außerdem bezahlen wir Millers unseren Angestellten seit jeher, was sie uns wert sind, und nicht, was der Standard vorschreibt. Man erzielt viel bessere Ergebnisse, wenn ein Arbeiter zufrieden und satt ist. Aber das weißt du ja sicher selbst. Oder hast du diese Erfahrung nie gemacht?«
Endlich musste er lachen. »Eine gute Frage! Nein, habe ich nicht. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen einzigen Dienstboten beschäftigt.«
»Niemals? In all den Jahren, die du weg warst?«
»Habe ich nicht erwähnt, dass ich die meiste Zeit auf See verbracht habe? Oder bei anderen Leuten?«
»Ein Lord ohne Diener. Ich bin … erstaunt.«
»Da brauchst du gar nicht erstaunt zu sein. Es ist nicht so schwierig, seine eigenen Stiefel zu putzen oder seine eigene Wäsche zu waschen. Und Kochen? Nun ja, das habe ich nie ausprobiert, wenn du es genau wissen willst.«
Grinsend fügte er hinzu: »Mein neuer Plan ist trotzdem gut. Dass wir miteinander geschlafen haben, weiß Vater bisher nur von mir. Genau das ist aber der Trumpf in unserer Scharade. Deswegen möchte ich, dass er es zusätzlich von jemand anderem hört. Wenn wir uns nicht darauf verlassen können, dass deine Zofe ihm die Botschaft überbringt, dann müssen wir eben mein Zimmer benutzen.«
Ohne Julias Zustimmung abzuwarten, packte er sie einfach an der Hand und führte sie in eines der beiden Eckzimmer am Ende des Ganges. Sein neuer Plan gefiel ihr nach wie vor nicht, auch wenn er einer gewissen Logik nicht entbehrte.
Trotzdem empfand sie eine Mischung aus Scheu und Neugier. Sie wollte wirklich gern das Zimmer sehen, in dem er aufgewachsen war. Als sie jedoch den Raum betrat und sich
umblickte, konnte sie kein Anzeichen dafür entdecken, dass dort jemals ein Kind gelebt hatte. Verblasste, ehemals jadegrüne Tapeten, alte gelbe Vorhänge, die trotz der nächtlichen Stunde nicht zugezogen waren, ein leerer Kamin, auf dessen Sims nichts stand, kein einziges Bild an der Wand. Da es sich um ein Eckzimmer handelte, gingen die Fenster zum Teil auf den seitlichen Hof hinaus, zum Teil auf die Rasenfläche vor dem Haus. Keines davon war geöffnet, sodass die Luft leicht modrig roch, obwohl gerade erst sauber gemacht worden war. Julias Blick fiel auf einen kleinen Schreibtisch, an dem Richard früher vielleicht mit seinen Schulsachen gesessen hatte, und auf ein Bücherregal ohne Bücher.
»Das ist aber nicht dein ehemaliges Kinderzimmer, oder?«, fragte sie, nachdem er die Tür hinter ihnen zugezogen hatte.
»Doch.«
Nichts in dem Raum deutete daraufhin, dass es je etwas anderes gewesen war als ein Gästezimmer. Was Julia zu der Bemerkung veranlasste: »Du hast wohl alles mitgenommen, als du weggegangen bist?«
»Nein, wahrscheinlich ist alles auf dem Müll gelandet, als irgendwann klar war, dass ich nicht zurückkommen würde. Ich habe damals nur mitgenommen, was ich tragen konnte: eine Tasche voller Erinnerungsstücke aus Kindertagen und ein paar Kleidungsstücke. Immerhin rannte ich um mein Leben – zumindest fühlte es sich für mich so an. Man hatte mich gerade auf brutalste Weise meines Haars beraubt: Jede einzelne Locke war mit einem Messer knapp über der Kopfhaut abgesäbelt worden, weil ich mich geweigert hatte, meinem Vater zu gehorchen und es freiwillig kürzen zu lassen.«
Sie bedachte ihn mit einem strafenden Blick. »Das ist nicht lustig.«
»Nein, in der Tat nicht.«
Sein ernster Ton ließ sie entsetzt die Augen aufreißen. »Das war kein Witz?« Dann fügte sie hinzu: »Trägst du es deswegen so lang? Weil dein Vater dir das nicht erlaubt hat?«
»Es erinnert mich an all die Entscheidungen, die ich selbst nicht treffen durfte. Und daran, welcher Hölle ich entkommen bin.«
Sie begriff, dass er England nicht wirklich ihretwegen verlassen hatte. Sie war nur eine weitere Entscheidung gewesen, die sein Vater ihm aufgezwungen hatte. Inzwischen aber war er kein Junge mehr, und sein Vater konnte nicht mehr über ihn bestimmen – außer auf illegale Weise. Allerdings erübrigten sich derart harte Maßnahmen, solange Milton ihrer Scharade tatsächlich Glauben schenkte.
»Nun komm schon, lach mal richtig schön laut!«, forderte Richard sie auf.
Sie schnaubte erbost, weil sie seine Aufforderung in diesem Moment völlig absurd fand. »Mir ist überhaupt nicht nach Lachen zumute.«
»Der Junge von damals braucht dir nicht mehr
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