Im Taumel der Herzen - Roman
vage daran erinnern konnte. Kurz vor ihrem vierten Geburtstag hatte er sie besucht, um sich darüber zu informieren, wie sie sich entwickelte, nachdem er sie das letzte Mal als Baby gesehen hatte. Seinen Sohn hatte er bei diesem Besuch nicht mitgebracht. Der Junge war auch nirgendwo zu sehen, als sie in Willow Woods eintrafen. Wie sie erfuhren, spielte er draußen mit seinem Hund. Julia hätte vor Erleichterung am liebsten geweint.
»Geh hinaus uns stell dich ihm vor, Julie!«, drängte Helene. »Ihr beide werdet euch famos verstehen, da bin ich ganz sicher!«
Ihr Vater machte Anstalten, sie zu begleiten, aber Helene legte ihm eine Hand auf den Arm. »Die beiden fühlen sich bestimmt weniger gehemmt, wenn wir nicht dabei sind«, erklärte sie, als könnte Julia sie nicht hören. Helene sprach oft in Anwesenheit ihrer Tochter über sie, als hätte sie keine Ohren. »Ihr erstes Treffen soll doch möglichst ungezwungen verlaufen. «
Während Julia die Rasenfläche entlangging, kam es ihr vor, als wären ihre Füße aus Blei. Was sollte sie nur zu dem Jungen sagen? Vielleicht konnte sie über seinen Hund reden und bei dieser Gelegenheit erwähnen, dass sie drei besaß. Oder sie erzählte ihm von dem Pony, das sie gerade bekommen hatte, und dass sie im Sommer ihre erste Reitstunde nehmen würde. Sie konnte ihn aber auch bitten, ihr zu zeigen, wie man fischte. Ihr Vater hatte ihr versprochen, es ihr bald beizubringen, auch wenn ihre Mutter geschimpft hatte, das schickte sich für ein Mädchen nicht. Hier auf dem Grundstück aber gab es einen See, gar nicht weit von dort entfernt, wo der Junge gerade mit seinem Hund spielte. Es war ein großer See, und man hatte ihr erzählt, dass der Junge alles übers Fischen wusste.
Noch hatte er sie nicht bemerkt, doch als sie ihm näher kam,
wurde ihr bewusst, wie groß er war – doppelt so groß wie sie! Damit hatte sie nicht gerechnet, denn sie kannte keine anderen Zehnjährigen. Mit seinem kurzen schwarzen Haar und der schön geschnittenen Jacke sah er aus wie die Miniaturausgabe eines Erwachsenen, während sie selbst noch den weiten Kittel eines kleinen Mädchens trug. Er sah so gut aus, wie ihre Eltern angekündigt hatten: in jeder Hinsicht perfekt, wenn auch vielleicht ein bisschen dünn. Aber das machte nichts, dünn war sie schließlich auch.
Ganz benommen von diesem ersten Anblick ihres Verlobten, verlangsamte sie ihre Schritte immer mehr. Als er sie schließlich bemerkte, blickte sie sofort zu Boden. Sie hätte bei dieser Gelegenheit ohne Weiteres im See landen können, so wenig achtete sie darauf, wo sie hintrat. Erneut war sie derart nervös, dass sie fast spüren konnte, wie auf ihren Wangen weitere Flecken auftauchten. Trotzdem ging sie tapfer immer weiter, wenn auch mit gesenktem Kopf, bis sie ihn erreichte und zumindest einen Teil seiner Beine sehen konnte, wenn sie vorsichtig unter dem Rand ihrer Haube hervorlugte.
»Dann bist du also die fette Börse, die ich heiraten soll?«, sprach er sie an.
Verständnislos blickte sie zu ihm hoch. Sie war nicht fett.
»Wie schade«, fügte er in hämischem Ton hinzu, während er auf ihre Wangen hinunterstarrte, »dass du nicht wenigstens hübsch bist! Das hätte dieses Eheversprechen vielleicht ein bisschen erträglicher gemacht.«
Sie begriff noch nicht so recht, was unter Herablassung oder Snobismus zu verstehen war, doch dass er sie nicht mochte, verstand sie sehr wohl. Sie hatte solche Angst vor dieser ersten Begegnung mit ihm gehabt, richtig gegraut hatte ihr davor, und nun hatte er sie mit seiner gemeinen Bemerkung so sehr verletzt, dass sie in Tränen ausbrach. Vor lauter Scham, weil sie weinte, geriet sie plötzlich derart in Wut, wie sie es noch
nie zuvor erlebt hatte. Rasend vor Zorn stürzte sie sich auf ihn und trommelte mit beiden Fäusten auf ihn ein.
Ihre Eltern mussten sie von ihm herunterzerren. Beide waren höchst bestürzt. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass ihr Vater damals sagte, er hätte ihr wohl doch keinen so großen Gefallen getan, als er für sie eine Ehe mit dem Sohn eines Grafen arrangierte. Richards Vater aber lachte nur über den Vorfall und versicherte ihren Eltern, so wären Kinder nun einmal. Julia hatte sich erst wieder beruhigt, als sie in der Kutsche auf dem Weg nach Hause saß.
Helene wusste einfach nicht, wie sie mit den Wutanfällen ihrer Tochter umgehen sollte, denn davon gab es ab jenem Tag eine Menge – wann immer sie oder Gerald einen weiteren Besuch in Willow
Weitere Kostenlose Bücher