Im Taumel der Herzen - Roman
Aufgewühlt und voller Wut, empfand sie gleichzeitig eine starke Furcht. Von all diesen Gefühlen gebeutelt, zitterte sie derart, dass sie sich nicht einmal hinsetzen konnte. Ausgerechnet jetzt, als sie gerade im Begriff stand, sich von der Kette zu befreien, die sein schrecklicher Vater ihr bereits als Baby um den Hals gelegt hatte, kehrte ihr schlimmster Albtraum zurück.
Aber es war kein Traum gewesen, sie hatte ihn mit eigenen Augen gesehen, seine fiesen Bemerkungen gehört und jene heftige Wut in sich hochsteigen gespürt, die sie in seiner Gegenwart immer empfand. Elf Jahre waren vergangen, seit sie ihn zum letzten Mal getroffen hatte, doch abgesehen von seinem Äußeren hatte er sich kein bisschen verändert. Das machten bereits die ersten paar Worte deutlich, die er zu ihr sagte, nachdem er sie wiedererkannt hatte. Bestimmt war seine Drohung, ihr den Hals umzudrehen, nicht scherzhaft gemeint gewesen.
Als Kind hatte er sie einmal im zweiten Stock über ein Balkongeländer hängen lassen, nur um ihr Angst einzujagen.
Aber sie hatte sich verändert. Sie war nicht mehr so schnell beleidigt. Sie ließ nicht mehr zu, dass ihre Wut ihr Handeln bestimmte, und sie ließ sich auch von niemandem mehr derart aus der Bahn werfen, dass die dem oder der Betreffenden am liebsten etwas angetan hätte, so wie damals ihm. Über ein solch impulsives Verhalten war sie mittlerweile hinausgewachsen, das hatte sie heute bewiesen: Statt wie früher zu versuchen, Richard die Augen auszukratzen, war sie einfach vor ihm geflohen. Das Vernünftigste, was sie tun konnte!
Ihre Wut aber wollte nicht weichen. War er zurückgekehrt, um jenen schrecklichen Vertrag zu erfüllen? Oder hatte er England nie verlassen? Seine Bemerkung, er hätte sich letztes Jahr in Georgina Malory verliebt, deutete auf Letzteres hin. London war eine Großstadt, in der man durchaus untertauchen konnte. Hatte er sich all die Jahre in der Stadt aufgehalten und über sie, Julia, gelacht, weil sie an ihre Verlobung gebunden blieb, ohne dass er sie tatsächlich zu heiraten brauchte?
Das hätte dem erbärmlichen Halunken ähnlich gesehen! Aber damit konnte sie leben – solange sein Vater nicht von seiner Anwesenheit erfuhr und sie beide zum Altar schleppte. Sie würde den Grafen bestimmt nicht wissen lassen, dass sein Sohn sich wieder in England befand. Stattdessen würde sie in ihrem Bemühen fortfahren, Richard für tot erklären zu lassen. Gabrielle Anderson wusste, dass er am Leben war, auch wenn Julia nicht sicher war, ob sie ebenso über seine wahre Identität Bescheid wusste. Vielleicht kannte sie ihn tatsächlich nur unter dem Namen Jean Paul, den sie Julia genannt hatte. Außerdem war Gabrielle nur auf Besuch und würde bald wieder abreisen. Die Malorys kannten ihn offenbar unter keinem seiner beiden Namen, sondern höchstens vom Sehen! Demnach konnte sie ihr Vorhaben, ihn für tot erklären zu lassen, durchaus
weiterverfolgen. Sie musste nur dafür sorgen, dass jener schreckliche Vertrag dabei vernichtet wurde.
Hatte sie überhaupt noch Aussicht auf Erfolg? Warum nicht, solange niemand sonst von Richards Existenz wusste? Und wenn der Vertrag endlich hinfällig war, brauchte Richard sich auch nicht mehr zu verstecken. Eigentlich sollte sie sich mit ihm darauf verständigen, dass das Ganze genau so ablaufen sollte – nein, lieber Himmel, wie kam sie nur auf eine solche Idee? Wie sie ihn kannte, würde er seine Anwesenheit in England gerade noch rechtzeitig bekannt geben, um ihren Plan zu durchkreuzen, und anschließend wieder verschwinden. Dann musste sie weitere zehn Jahre warten, bis sie es erneut versuchen konnte!
Doch ungeachtet der Frage, ob er die ganze Zeit in England verbracht hatte oder nur vorübergehend auf Besuch dort weilte, wie er erwähnt hatte, beabsichtigte er offenbar nicht, sie zu heiraten. Zumindest war er nicht nach Hause zurückgekehrt, denn sonst hätte der Graf sie längst darüber informiert. Stattdessen hatte Richard einen Londoner Ball besucht, um dort die Frau anzuschmachten, die er liebte. Und obwohl er diese andere liebte, hatte er zugegeben, dass es seine Absicht gewesen war, sie, Julia, zu verführen! Es sah einem aristokratischen Lebemann wie ihm ähnlich, sich derart von seinen ungezügelten fleischlichen Begierden beherrschen zu lassen. Warum sollte es sie auch nur im Mindesten überraschen, dass Richard sich zu einem solchen Windhund entwickelt hatte?
Wie war es möglich, dass sie sich zu ihm hingezogen gefühlt hatte?
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