Im Taumel der Herzen - Roman
zu Bett und konnte dank ihres Erfolges auch sofort einschlafen. Was sich im Nachhinein als Unglück entpuppte, denn dadurch stand sie am nächsten Morgen so früh auf, dass alle Erwachsenen noch schliefen. Während sie allein im Frühstückszimmer saß, kam Richard herein.
Bei ihrem Anblick machte er Anstalten, wieder umzukehren. Sie hätte den Mund halten und ihn gehen lassen sollen, doch sie bildete sich tatsächlich ein, sie könnte sich einen weiteren Tag lang beherrschen – egal, wie sehr er sich auch anstrengte, sie zu provozieren.
»Sollen wir heute wieder Dame spielen?«, fragte sie. »Ich habe dich noch immer nicht besiegt.«
»Das wirst du auch nie, solange du keine Ahnung hast, wie man richtig spielt. Du bist doch noch ein Baby, Jewels! Du beherrschst noch nicht mal ein so einfaches Spiel wie Dame.«
In diesem Moment begriff sie, dass ihm nicht das Geringste daran gelegen war, gut mit ihr auszukommen. Der gestrige Tag, den sie unter den wachsamen Blicken ihrer Eltern verbracht hatten, zählte nicht.
»Ich hasse dich!«, schrie sie ihn an.
Er lachte bitter. »Du bist viel zu jung, um überhaupt zu
wissen, was das bedeutet, du dummes Huhn. Aber ich weiß es umso besser.«
Sie warf ihm ihren Teller an den Kopf. Natürlich verfehlte ihr Geschoss sein Ziel. Sie hatte noch gar nicht genug Kraft, um den großen, schweren Teller auch nur in die Nähe seines Kopfes schleudern zu können, sodass er klappernd auf dem Boden landete. Doch Richard, dem ihre Absicht nicht entgangen war, starrte sie einen Moment aus schmalen Augen an. Dann sprang er auf und rannte um den Tisch herum auf sie zu, woraufhin sie kreischend in die andere Richtung lief und zur Tür hinaus flüchtete. Sie blieb erst stehen, als sie wieder oben in ihrem Zimmer war, und somit in Sicherheit.
Doch er folgte ihr! Bevor sie auch nur auf die Idee kam, die Tür abzuschließen, stürmte er in den Raum, zerrte sie binnen von Sekunden auf den kleinen Balkon hinaus und hielt sie über die Brüstung. Offenbar wollte er sie hinunterwerfen! In ihrer Todesangst wagte Julia nicht einmal zu schreien. Er aber packte sie an den Fußgelenken und ließ sie mit dem Kopf nach unten von der Brüstung baumeln.
Bis sie Richard Allen kennenlernte, war Julia nicht klar gewesen, welch unglaubliche Wut sie entwickeln konnte. Ein Gefühl wie dieses aber hatte sie auch noch nie erlebt: pure Angst. Sie fühlte sich wie gelähmt, während er sie immer weiter hinunterließ. Dafür war er doch gar nicht stark genug! Bestimmt musste sie nun sterben!
Als er sie schließlich wieder nach oben zerrte, lachte er einen Moment hämisch, ehe er sie auf den Balkonboden zurückstellte. »Du bist genauso dürr, wie ich dachte!«
Inzwischen bedeckte ihr loser Kittel wieder ihren Körper, doch während er sie vom Balkon hatte baumeln lassen, war ihr der Stoff mit der Innenseite nach außen übers Gesicht gefallen, sodass Richard ihre entblößten Beine und ihre Unterwäsche sehen konnte. Kaum aber hatte sie wieder festen Boden
unter den Füßen, schlug das Entsetzen, das er ihr gerade noch bereitet hatte, in den schlimmsten Wutanfall ihres Lebens um. Sie wusste selbst nicht, wie sie es schaffte, ihm die Nase zu brechen. Mit der Faust? Oder mit der Handfläche, die ihn genau richtig erwischte? Jedenfalls wich er plötzlich vor ihr zurück, hinein in ihr Zimmer, eine Hand an der Nase. Obwohl er sofort aus dem Raum stürmte, erhaschte sie noch einen Blick auf das Blut, das unter seiner Hand hervorquoll.
Julia stand immer noch keuchend auf dem Balkon. Nun, da sie endlich allein und auch halbwegs sicher war, dass er ihr vorerst nichts mehr anhaben konnte, begann sie laut zu schluchzen. Sie sah, wie Richard unten über den Rasen lief und dann auf der anderen Seite des Hauses im Wald verschwand.
Sie hatte nicht vorgehabt, ihm die Nase zu brechen. Es war einfach passiert, aber nach allem, was er ihr angetan hatte, freute sie sich richtig darüber. Er war mit seiner blutenden Nase in den Wald gelaufen, als wollte er sich wie ein verletzter Welpe in irgendeinem Loch verkriechen. Vielleicht wollte er auch nur eine Weile dort schmollen. Julia aber wartete gar nicht erst ab, ob er zurückkommen würde oder nicht. Sobald ihre Eltern aufgestanden waren, überredete sie sie dazu, mit ihr nach Hause zurückzukehren. Sie erzählte ihnen nicht, was passiert war. Bestimmt würde Richard es auch nie erwähnen.
Von da an weigerte sie sich schlichtweg, ein weiteres Mal nach Willow Woods zu fahren, und
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