Im Taumel der Herzen - Roman
klein, dass höchstens ein, zwei Stiche nötig seien, um ihn zu schließen, und er wolle damit warten, bis ich erneut das Bewusstsein verloren hätte. Obwohl er das Ganze höchst faszinierend fand, war er nicht allzu optimistisch. Als er dann aber am Nachmittag wiederkam, war ich immer noch wach. Bevor er Feierabend machte, hat er es noch einmal versucht, aber ich war immer noch wach.«
Mittlerweile grinste Gerald wieder breit. Julia musste gegen ihren Willen weinen. Ihr Vater war seit seinem Unfall noch nie so lange bei Bewusstsein gewesen. Sie hatte jeweils nur ein paar Stunden mit ihm verbringen können, und einmal war er schon nach wenigen Minuten zurück in jenen toten Nebel der Besinnungslosigkeit geglitten.
Obwohl ihr die Tränen über die Wangen liefen, als sie nun seine Hand nahm, grinste sie gleichzeitig genauso breit wie er. »Mein Gott, du bist endlich wieder nach Hause gekommen – endgültig!«
24
W ährend dieser Woche wich Julia ihrem Vater kaum von der Seite. Sie wollte, dass ständig jemand neben ihm wachte, und obwohl sie über ein ganzes Haus voller Bediensteter verfügte, die sie mit dieser Aufgabe hätte betrauen können, übernahm sie es lieber selbst. Nur mit Arthur wechselte sie sich hin und wieder ab, sodass selbst dann, wenn Gerald schlief, immer einer von ihnen beiden bei ihm saß. Für Besucher war sie während dieser Woche nicht zu sprechen. Das galt auch für Georgina und Gabrielle, ja sogar für Carol. Sie ließ ihnen einfach ausrichten, dass ihr Vater aufgewacht wäre und dass sie sich bald bei ihnen melden würde.
Wie bald das wäre, wusste Julia nicht. Sie hatte immer noch Angst, ihr Vater könnte einen Rückfall erleiden. Womöglich durfte sie lediglich ein paar geschenkte Tage mit ihm verbringen. Aufgrund dieser Angst verspürte sie weiterhin den alten Zeitdruck und folglich auch den Wunsch, jede Minute auszunutzen, die er noch wach war. Obwohl er jeden Morgen mit jenem wundervollen Lächeln dalag, das ihr so das Herz erwärmte, wollte ihre Angst einfach nicht weichen. Tag für Tag erwachte sie mit einem unguten Gefühl im Magen und musste sofort in sein Zimmer laufen, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass er noch bei ihnen war – wirklich bei ihnen.
Dr. Andrew schrieb an einem Bericht über Geralds Genesung,
den er seinen Kollegen schicken wollte, genau, wie er ihnen auch über die ungewöhnlichen Auswirkungen der ursprünglichen Verletzung berichtet hatte.
Gerald wollte natürlich über alles informiert werden, was er verpasst hatte. Es gab so viele Themen, die sie bisher stets ausgeklammert hatten, weil nicht genug Zeit gewesen war, um darüber zu sprechen. Julia brauchte einen ganzen Tag, um ihn hinsichtlich seines Geschäftsimperiums auf den neuesten Stand zu bringen! Sie hatte mehrere neue Geschäftszweige erworben und nur einen einzigen seiner Geschäftsführer entlassen müssen, weil er nicht so gut arbeitete wie die anderen.
Auf sie selbst kamen sie erst zu sprechen, als ihr Vater unvermittelt fragte: »Wie alt bist du inzwischen eigentlich, Julia? Ich konnte mich nie überwinden, dich danach zu fragen. Mir hat wohl davor gegraut, zu erfahren, wie viel Zeit ich tatsächlich versäumte.«
»Mein Gott, Papa, seit dem Unfall sind fünf Jahre vergangen. Ich bin inzwischen einundzwanzig.«
Julia hatte bei diesen Worten bereits zu weinen begonnen und wurde nun von lauten Schluchzern geschüttelt. Das brachte den ganzen Schrecken seiner Verletzung so treffend auf einen Nenner: dass ihm dadurch fünf Jahre seines Lebens geraubt worden waren – und ihr auch. Noch schlimmer aber war, dass sie ihm nun vom Tod seiner Frau berichten musste. Sie selbst hatte bereits um ihre Mutter getrauert, aber ihr Vater hatte dazu nie Gelegenheit gehabt. Er war jedes Mal nur Minuten oder höchstens Stunden bei Bewusstsein gewesen, sodass Julia es nie übers Herz gebracht hatte, ihm die kurze Zeit mit der Nachricht zu vergällen, dass nur er den Unfall überlebt hatte. Gerald hatte Helene trotz all ihrer Macken geliebt und es ihr daher auch nicht übelgenommen, dass sie vom gesellschaftlichen Aufstieg träumte und die Millers durch eine Heirat in den Adelsstand erheben wollte.
Julia hatte sich die ganze Zeit vor diesem Gespräch gefürchtet, wusste jedoch, dass sie es nicht länger hinausschieben konnte. »Und Mama …«
»Schhh, Liebes«, unterbrach er sie mit belegter Stimme, »das habe ich mir schon gedacht.«
Während er sie an sich drückte, musste sie nur noch
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