Im Taumel der Sehnsucht
er auf diese Art und Weise ihre Kindheit mit ihr hatte teilen wollen. Der Gedanke verwirrte sie. Und machte sie auch ein wenig traurig.
Caroline, die von Natur aus denen treu ergeben war, die sie liebte, wußte mit einem Mal nicht mehr, was sie denken sollte. Die Bilder deuteten darauf hin, daß sie ihrem Vater stets wichtig gewesen war. Warum hatte er sie dann aber in die Kolonien geschickt? Er hatte sich doch sicher denken können, daß sie mit der Zeit ihren Onkel und ihre Tante als Eltern ansehen und sie Mama und Papa nennen würde. Sie war damals, als sie nach Boston kam, erst vier gewesen. Es war nur logisch, daß Charitys Brüder auch ihre Brüder werden würden. Und er mußte auch geahnt haben, daß ihre frühesten Erinnerungen in der neuen Umgebung nach und nach verblassen würden.
Dann nahm das schlechte Gewissen Oberhand. Er hatte für sie ein großer Opfer auf sich genommen. Mama hatte ihr das unzählige Male gesagt! Sie hatte ihr erklärt, daß der Earl seine Tochter in einer intakten Familie hatte aufwachsen sehen wollen, daß er überzeugt gewesen war, bei seinem jüngeren Bruder und seiner Familie würde sie die nötige Zuwendung und Geborgenheit finden, die er ihr - aus welchen Gründen auch immer - nicht hatte geben können.
Aber wieso war er nicht auf den Gedanken gekommen, daß seine Liebe vielleicht ausgereicht hätte?
Und sie? Gütiger Himmel, sie hatte sich ihm als schlechte Tochter erwiesen. Sie wußte noch sehr gut, wie sehr sie immer gezetert hatte, wenn sie ihm einen Brief hatte schreiben sollen. Sie war selbstsüchtig und - so sehr sie dieses Eingeständnis auch schmerzte - wahrhaftig unloyal gewesen. Sie hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um in Boston bleiben zu können, hatte einen anderen Papa genannt und, was am schlimmsten war, hatte ihre Liebe zu ihrem echten Vater vergessen.
Sie wünschte sich nun, sie hätte die Bilder nicht gesehen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und plötzlich wirbelte sie auf dem Absatz herum und stürzte aus dem Zimmer. Am liebsten wäre sie sofort wieder nach Boston zurückgereist, und dieser Wunsch erfüllte sie mit Scham. Er war würdelos und schrecklich feige. Würde sie in der Lage sein, ihrem Vater ein wenig von der Liebe abzugeben, die sie für ihre Familie in Boston empfand?
Caroline ging zu ihrem Zimmer und legte sich aufs Bett. Sie war entschlossen, sich über ihre Gefühle Klarheit zu verschaffen. Ihr Verstand beharrte darauf, daß sie noch ein kleines Kind gewesen war, als man sie entwurzelt und in eine andere Familie gegeben hatte; niemand konnte von ihr erwarten, einem Mann, den sie praktisch nicht kannte, Liebe und Loyalität entgegenzubringen. Und doch tat ihr das Herz weh. Es wäre soviel einfacher gewesen, auf einen kalten, hartherzigen Earl zu treffen! Die ganze Reise von Boston nach London über hatte sie die tragische Heldin gespielt, die tapfer - und vor allem voller Selbstmitleid! - ihrem Schicksal entgegengesegelt war. Sie hatte sich und ihrem Vater Rollen zugedacht, mit denen sie einigermaßen hatte zurechtkommen können. Doch die Wirklichkeit war eine andere Sache.
Was sollte sie tun? So sehr sie auch nachdachte, sie konnte keine Antwort finden, und schließlich fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Einmal, mitten in der Nacht, erwachte sie.
Es war das Knarren der Tür, das sie aus dem Schlaf riß. Doch obwohl sie augenblicklich hellwach war, tat sie so, als würde sie schlafen. Durch halb geöffnete Augenlider beobachtete sie, wie ein älterer Mann an der Tür zögerte und dann langsam auf sie zukam. Sie schloß die Augen, doch nicht bevor sie die Tränen, die über sein Gesicht rannen, gesehen hatte. Der Mann sah aus wie eine ältere Ausgabe seines Bruders, und sie wußte, daß ihr Vater neben ihrem Bett stand.
Caroline spürte, wie die Decke ihres Bettes heraufgezogen und um ihre Schulter festgesteckt wurde. Diese zärtliche Geste zerriß ihr fast das Herz. Dann fühlte sie seine Hand. Zitternd strich er ihr zart, ganz zart über die Wange, und mit liebevoller Stimme flüsterte er: »Willkommen zu Hause, Tochter.«
Er beugte sich herab und küßte sie leicht auf die Stirn. Dann hörte sie, wie die Schritte sich von ihr entfernten. Der Geruch von Tabak und Gewürzen lag in der Luft, und plötzlich schlug Caroline die Augen auf. Sie erinnerte sich. Sie kannte diesen Geruch. Sie versuchte die dazu passenden Bilder heraufzubeschwören, aber wie die Glühwürmchen, die sie als Kind immer zu fangen versucht
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