Im Taumel der Sehnsucht
vergewissern, daß Benjamin ebenfalls gut untergebracht war. Anschließend kehrte sie wieder nach unten zurück und half Charity bei der Suche nach ihrer Ersatzbrille.
Doch auch damit konnte sich Caroline nicht lange beschäftigen. Kurz darauf ließ sie ihre Cousine wieder allein. Sie war unruhig und nervös, und sie wußte, woran es lag. Ihr Vater würde heute abend schon ankommen. Wie würde er reagieren? War er genauso liebevoll, wie er sich in seinen Briefen angehört hatte? Würde ihm ihre Erscheinung gefallen, oder würde er enttäuscht sein? Würde er sie mögen? Und noch wichtiger - würde sie ihn mögen?
Sie hielt an der Tür zu der gewaltigen Bibliothek an und spähte hinein. Der Raum war geschrubbt, aufgeräumt und makellos - Behaglichkeit strahlte er nicht aus. War ihr Vater etwa ein Anhänger von Kargheit? War er genauso streng wie seine Bibliothek?
Je mehr Räume sie sich im Erdgeschoß anschaute, desto unbehaglicher wurde ihr. Jedes Zimmer war überaus ordentlich, alles wirkte korrekt und akkurat. Und entsetzlich kalt. Der Salon lag links von der gefliesten Eingangshalle und war sehr elegant. In Blaßgelb- und Goldtönen gehalten, wirkte der Raum sehr geschmackvoll, aber wenig einladend. Caroline versuchte, sich ihre Vettern in diesem Salon vorzustellen, aber es war vollkommen unmöglich. Die weichgepolsterten Sitzmöbel sahen nicht so aus, als wären sie für stämmige Männer in Arbeitskleidung gemacht. Männer, die es lieber bequem hatten, die wenig wert auf Eleganz legten, sich nicht einmal die Stiefel abstreifen würden, bevor sie hereingepoltert kamen ... Nein, dachte Caroline. Caimen, Justin, Luke und George würden sich hier genauso unbehaglich fühlen wie sie.
Rechts von der Eingangshalle befand sich das Speisezimmer. Zentrum des Raumes bildete ein massiver Mahagonitisch, um den zwölf Stühle standen, doch die edlen Kristallkelche mit dem Goldrand, die auf dem Büffet an der gegenüberliegenden Tür plaziert waren, zogen die Aufmerksamkeit des Betrachters ebenfalls auf sich. Auch hier war nichts gemütlich, nichts warm oder anheimelnd; der Raum sprach ausschließlich von Reichtum und Luxus.
Caroline wanderte den Flur entlang und entdeckte schließlich ein anderes Arbeitszimmer, das sich direkt hinter dem Empfangssalon befand. Als sie die Tür öffnete und die behagliche Unordnung sah, fiel ihr ein Stein der Erleichterung vom Herzen. Das war offenbar das Zimmer, in dem ihr Vater wirklich lebte. Einen Augenblick zögerte sie, da ihr war, als würde sie ein privates Heiligtum entweihen, dann trat sie schließlich ein. Nachdenklich betrachtete sie den herrlichen Schreibtisch, die beiden abgewetzten Ledersessel und die Bücher, die in den Regalen an zwei Wänden standen, während sie langsam auf die großen Fenster zuwanderte, die zu einem sichtgeschützten Abschnitt des Gartens hinausgingen. Nachdem Caroline eine Weile die wunderschöne Aussicht genossen hatte, drehte sie sich um. Vor Überraschung erstarrte sie. Die gegenüberliegende Wand war von oben bis unten mit Zeichnungen bedeckt - Zeichnungen, die sie selbst gemacht hatte. Da waren Bilder, eher Kritzeleien, die sie als kleines Kind angefertigt hatte, andere, kunstvollere, die Häuser und Bäume darstellten. In der Mitte der Wand hing eine Zeichnung, an die sich Caroline noch sehr gut erinnern konnte. Sie trat einen Schritt näher heran und schüttelte lachend den Kopf. Das Bild war ihr erster Versuch eines Familienporträts gewesen. Alle waren anwesend: ihre Bostoner Eltern, ihre Vettern, Charity und sogar ihr Vater, obwohl sie ihn ein wenig abseits von der Gruppe plaziert hatte.
Die Wiedergabe ihrer Modelle war ziemlich lächerlich. Caroline hatte die Bäuche mit großen Kreisen gezeichnet und Zähne als Hauptaugenmerk angesehen. Kleine Gesichter, alle grinsend, aus denen gewaltige Zähne hervorstanden! Sie mußte etwa sechs gewesen sein, als sie das Bild gemalt hatte, und sie erinnerte sich noch daran, wie stolz sie gewesen war.
Die Tatsache, daß ihr Vater all diese Zeichnungen aufgehoben hatte, erstaunte Caroline und wärmte ihr Herz. Charitys Mutter mußte sie ihm geschickt haben, ohne Caroline gegenüber ein Wort darüber zu verlieren.
Caroline lehnte sich an die Tischkante und betrachtete die Bilderwand eine lange Weile. Nun bemerkte sie, daß ihr Vater auf den ganz frühen Bildern überall zu sehen war, auf den neueren aber nicht mehr in Erscheinung trat. Dennoch hatte er sie alle behalten! Und plötzlich begriff sie, daß
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