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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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hatte.
    Als Helen sie vorhin mit Mabos Hilfe von ihrer Lagerstatt gehoben hatte, schien der abgezehrte Körper ihr so gewichtlos wie ein Bambusbündel und zugleich so starr wie eine steinerne Skulptur. »Ein geistreicher Schachzug von Ajkinsaj«, hatte Ixnaay damals in Kantunmak zu ihr gesagt, unter Tränen. Eine Bemerkung, die auch in einem zweiten, teuflischen Sinn zutraf, wie Helen sich nun sagte: Der Zauber Ajkinsajs hatte seine Widersacherin buchstäblich in eine Figur verwandelt, eine Stele aus versteinerndem Fleisch.
    »Wenn ich nicht mehr sprechen kann, will ich von euch gehen.« So hatte Ixnaay es sich erbeten, und so würde es nun geschehen. Der Abend dämmerte bereits, in nicht einmal einer Stunde würde die Sonne im Ozean des Waldes versinken. Sie mußten sich beeilen, dachte Helen, indem sie sich abwandte und verstohlen über die Augen wischte.
    Man schrieb den 1. September 1878, einen Sonntag nach christlicher Zeitrechnung. Nach dem Kalender des alten Volkes aber war es der Tag Zehn Kan S iebzehn Tzul, regiert vom Hundegott des Untergangs.
    Von silbrigem Glanz umhüllt, lag Ixnaay in ihrer Mondbarke, die letzte Priesterin Ixquics, bereit zu ihrer allerletzten Fahrt. Das Gesicht erstarrt und abgezehrt, um Mund und Nase fast durchscheinend, die Augen viel zu groß, viel zu glänzend unter der schon todesfahlen Stirn. Einzig ihre Augen konnte sie noch bewegen. Beharrlich ging ihr Blick von Helen zu Mabo, von dem Mestizen zu Ajkech und abermals zu Helen, als wollte sie sich das Aussehen ihrer letzten irdischen Begleiter noch einmal einprägen.
    Vor kaum einer Stunde hatte sie auch von Robert Abschied genommen. Es war ein todtrauriger Anblick gewesen, wie Ixnaay, von Mabo und Ajkech mitsamt ihrem Boot vor seiner Hüttentür aufgerichtet, ein letztes Mal ihren Traumgeliebten angesehen hatte, ihren Winikuj, der seit ihrer Flucht aus Kantunmak die meiste Zeit ohne Bewußtsein war.
    Tränen waren aus Ixnaays überweiten Augen getreten und ihre starren Wangen hinabgerollt, und Robert hatte leise aufgeseufzt, als empfände er den zerreißenden Schmerz ihres Abschieds selbst im Ohnmachtsschlaf.
    Nun strafften Ajkech und Mabo das Seil und begannen, das Boot über die Lichtung zu ziehen, auf den Tempel Ixquics zu. In den letzten Tagen hatten sie aus Lianen ein fünfhundert Fuß langes Tau geflochten, das sie benötigten, um den letzten Willen der Verzauberten zu erfüllen. Nachdem Ixnaay in die Barke gebettet war, hatten sie mit dem Ende des Seils den Bootsrumpf von vorn bis hinten so umwickelt, daß die schöne Reisende nun unter einem Gitter aus Seilstreben lag. Auf diese Weise würde sie sicher im Innern der Barke verbleiben, auch wenn ihr Gefährt lotrecht gen Himmel aufstieg.
    Als sie am Fuß der Ruine angekommen waren, blieb nur Helen bei der Silberbarke zurück, während ihre beiden Gehilfen, das zusammengerollte Tau über den Schultern, rasch die steile Treppe zum Tempeldach emporliefen, fünfzig Schritte über der Lichtung. Oben angekommen, schlangen sie das Seil um den Stamm der gewaltigen Ceiba, die auf dem flachen Tempeldach aufragte, weitere zweihundert Fuß hoch, wenn nicht mehr. Dann traten sie an den Rand des Firsts und begannen auf ein Zeichen von Helen hin, das Boot behutsam an seinem Seil emporzuziehen.

4
     
     
    Mit schmerzhaft pochendem Genick tappte Robert zum Türloch und verharrte auf der Schwelle, geblendet von der Nachmittagssonne, die rotgolden über der Tempelruine schwebte. In seinem Kopf fühlte er einen sausenden Schwindel, und seine Beine schienen zu kraftlos, um sein Gewicht zu tragen.
    Es dauerte mehrere Minuten, bis seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten und er sich stark genug fühlte, auch nur den Türstock loszulassen. Endlich wagte er einige unsichere Schritte durch Schlamm und Pfützen, die im Sonnenlicht gleißten. Auf dem kreisrunden Platz war weit und breit niemand zu sehen.
    Er beschirmte seine Augen und blinzelte zu der riesenhaften Ruine hinüber, deren Fassade zwischen den Bäumen hervorschimmerte. Der Anblick, der sich ihm dort drüben bot, in einer Entfernung von mehr als zwanzig Schritten, verschlug ihm beinahe den Atem. Träumte er noch oder narrten ihn Fieberphantasien? An der nahezu senkrechten Tempelfassade glitt langsam, ruckweise ein silbernes Boot empor, und aus dem Innern des Gefährtes sahen ihn zwei unnatürlich glänzende Augen unverwandt an.
    Ixnaay. Seine Seele ahnte die Wahrheit, bevor sein Verstand begriff: Etwas Unwiderrufliches war

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