Im Tempel des Regengottes
Schultern, den Hals hinauf und ihrem Herz entgegen. Ixnaay, die zu diesem Zeitpunkt schon von unaufhörlichem Schüttelfrost gepeinigt wurde, hatte Helen beschworen, ihren letzten Willen zu befolgen, und obwohl bereits der Gedanke daran sie mit Grauen erfüllte, hatte Helen schließlich zugestimmt. Stelenzauber, dachte sie - so gräßlich wie die Wirkung des Giftes war sein mythenalter Name, und so wenig wieder aufzuheben wie ein urtümlicher Fluch.
Aufgeschreckt durch ein leises Knacken in ihrem Rücken, wandte sie sich um, zum Waldsaum auf der anderen Seite des Platzes, den sie genau so in ihrem Traum erblickt hatte: eine weite, kreisrunde Lichtung im Schatten der Tempelruine. Soeben traten zwei schmale Gestalten, nackt bis auf den Schurz des Jägers oder Kriegers, aus dem Unterholz und gingen auf sie zu. Sie beide trugen Körbe auf dem Rücken, gefüllt mit Brennholz, Wurzelstrünken, großblättrigen Pflanzen. Ajkech und Mabo. Ohne diese beiden Gehilfen wäre ich längst vor Erschöpfung umgefallen, dachte Helen. Seit sie alle fünf hier in Ixt'u'ulchac eingetroffen waren, befolgten Mabo und der kleine Krieger ihre Anweisungen, ohne jemals zu ermüden oder auch nur zu murren. Als erstes hatten sie die Hütten errichtet, mit staunenswertem Geschick und zauberischer Schnelligkeit. Als dann die ersten verwundeten Mayakrieger eingetroffen waren, hatten sie beinahe über Nacht auch noch das massive Langhaus gezimmert, das mehrere Dutzend Patienten beherbergen konnte. Stillschweigend schienen sie beide anzuerkennen, daß die Führung ihrer kleinen Gruppe zumindest vorläufig an Helen übergegangen war - vielmehr an den Pferdeburschen Henry, dessen Maskerade aber wenigstens Mabo wohl seit langem durchschaut hatte.
Der Tag begann sich bereits wieder zu neigen. Sonderbar, wie hier draußen die Zeit verrann, dachte Helen, gleichförmig und doch unmerklich rasch. In zwei Stunden schon würden die Vögel ringsum im Wald ihr abendliches Konzert anstimmen, jeden Gedanken überschreiend und jeden anderen Laut des Dschungels übertönend. Für Raubzüge und Überfälle war es die günstigste Stunde, das wußte sie spätestens, seit sie bei Chul Ja' Mukal von den jungen Mayakriegern überrumpelt worden waren. Und auch wenn sie von den Indios hier gewiß nichts zu befürchten hatten, sah sie in düsteren Momenten doch immer wieder die beiden Sergeants vor sich, die geschworen hatten, Robert Thompson zur Strecke zu bringen: Charles Muller und Dickie Chillhood, der vierschrötige Held Britanniens.
Aber wie sollten die beiden sie in dieser tiefsten Wildnis aufspüren, an einem Ort, der viele Meilen weit von unwegsamem Morast umschlossen war? Sosehr sich Helen seit einigen Tagen nach Fort George zurücksehnte, nach Lichtern und Gerüchen, Ordnung und Bequemlichkeit der vertrauten Stadt, sowenig schien es ihr gerade jetzt ratsam, den natürlichen Schutz aufzugeben, den Ixt'u'ulchac ihnen bot.
2
Als er zu sich kam, fand er sich in einer dämmrigen Hütte, rücklings auf einer Lagerstatt liegend, sein Brustkorb straff umspannt mit einem silberfarbenen Tuch. In seinem Genick pochte ein leiser, stetiger Schmerz unter einem Verband, dessen fledermausförmigen Umriß er mit der Hand ertastete.
Minutenlang lag er einfach da, nackt bis auf einen Schurz und das unerklärliche Brusttuch, ohne die mindeste Vorstellung, wo er sein mochte und wie er hierhergeraten war. Feuchtheiße Luft erfüllte seine Hütte, und er fühlte sich matt und zugleich seltsam erfrischt, als ob er lange, sehr lange geschlafen hätte.
Durch das Türloch drangen leise Geräusche, ein Prasseln wie von Feuer, dann eine Stimme, die ihm vertraut schien und doch unbestimmbar blieb. Vergeblich überlegte er, wer dort draußen sprechen mochte, eine helle, energische Stimme, ungewiß, ob von einem Burschen oder einer jungen Frau.
Bilder, bunte Schatten wehten durch seinen Geist, doch er hätte nicht sagen können, ob es Trauszenen oder Erinnerungen waren. Er schloß die Augen und sah sich einen Strom hinabtreiben, ungewiß, ob in einem Boot oder einfach mit einem Brett unter seinem Rücken. Den Fluß hinab, durch Stromschnellen und gischtende Strudel, während das Gewölbe der Baumwipfel über ihm unablässig schwankte. Ein Gewirr aus Sonnenfäden, Laubwerk, Papageienfedern, aus süßen Blütendüften und dem Duft nasser Erde, mit dem Geruch seines eigenen Blutes vermischt.
Wieder hob er die Lider und sah um sich: die Hütte, ein kleiner, runder Raum, leer bis
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