Im Tempel des Regengottes
jenem Aprilmorgen alles berichtet - jedenfalls »all das, was ein Mann schicklicherweise vor einer jungen Frau preisgeben kann«.
Es war übergenug gewesen, um Helen mehr als einmal erröten zu lassen, vor Scham, Verwirrung oder Zorn. Im Verlauf seiner Stunden dauernden, von trunkenem Murmeln und stieräugigem Schweigen durchsetzten Beichte hatte Mr. Suthe rland sich vor ihr entblößt wie vielleicht niemals vorher vor irgend jemandem in seinem Leben. Kurzzeitig hatte sie einen jüngeren, heißblütigen James Sutherland erblickt, der vor vielen Jahren weit draußen in der Wildnis seiner eigenen Wildheit begegnet sein mochte. Aber dieser jüngere Mann, der möglicherweise sogar etwas wie Liebe für die »braune Frau im Wald« empfunden hatte, verschwand schon bald wieder hinter der Maske des heutigen Sutherland, eines vorzeitig gealterten Gentleman, der offenbar alle Leidenschaften in sich abgetötet hatte, ausgenommen nur sein »christliches Pflichtgefühl«. Und so hatte Helen in den Stunden seiner trunkenen Beichte nicht einen Moment lang das Gefühl, Mr. Sutherland auch nur einen Zoll nähergekommen zu sein als in all den Jahren zuvor, in denen er lediglich ihr unnahbarer Gönner gewesen war.
In einem einzigen Punkt war Mr. Sutherland ihr ausgewichen. Er hatte behauptet, nicht zu wissen, was aus ihrer Retterin und dem größeren Mädchen geworden war, die sie damals nach Sutherland House gebracht hatten. Helen war sicher, daß es gelogen war, aber sie hatte auch sofort gespürt, daß er dieses eine Geheimnis beharrlich verteidigen würde. Vieles sprach dafür, daß die junge India, die sie am Vorabend im Patio belauscht hatte, niemand anderes als das ältere Mädchen von damals war und die Mutter, die es erwähnt hatte, ihre einstige Retterin. Aber wie hätte sie danach fragen können, ohne Mr. Sutherland auf den Kopf zuzusagen, daß er sie - schon wieder - belog? Nach dem belauschten Gespräch schien es Helen unzweifelhaft, daß die beiden, Mutter und Tochter, James Sutherland erpreßten, womöglich schon seit zwanzig Jahren.
»Hey, Holzkopf? Reitet der verrückte Halbaffe glatt an uns vorbei! Abgesessen, zum Donner, hier bleiben wir über Nacht!« Wieder dauerte es einen Moment, bis sie begriff, daß Mr. Mortimers laute Schmähungen ihr galten, vielmehr dem Burschen Henry, der mit verständnisloser Miene von der falschen Nonne zu dem Hünen mit dem honiggelben Haarschopf sah.
»Verzeihen Sie, Sir, ich war in Gedanken.« Sie beeilte sich, ihre Schecke zu wenden und auch das eigensinnige Packpferd mit sich zu ziehen, auf die schmale Lichtung am Wegrand, wo Mr. Mortimer seinen Rappen bereits abgeschirrt hatte. Es beunruhigte sie, daß die beiden nun anscheinend gänzlich mit Mr. Thompson und Mr. Climpsey brechen wollten. Für ein Nachtlager war es noch viel zu früh, die Sonne stand hoch am Himmel, gut und gerne hätten sie vor Einbruch der Dunkelheit noch zwei Stunden weiterreiten können. Aber unter Mortimers grimmigem und Miriams hämischem Blick blieb dem Reitburschen Henry nichts anderes übrig, als folgsam von seinem Pferd zu klettern und ihr Nachtlager vorzubereiten.
Während sie die Tiere abschirrte, ihnen Futtersäcke umhängte und sich dann auf die Suche nach einer Wasserstelle machte, war sie in Gedanken längst wieder bei Mr. Sutherland, in seiner von stickiger Hitze, Zigarrenrauch und Portweingeruch erfüllten Bibliothek.
James Sutherland ist mein Erzeuger, dachte sie wieder, aber er wird niemals mein Vater sein. Die gefüllten Wasserschläuche über der Schulter, kehrte sie auf die Lichtung zurück, wo von Mr. Mortimer und der Barmherzigen Schwester Miriam weit und breit nichts zu sehen war. Helen tränkte die Pferde, dann ließ sie sich im Schatten eines Mahagonibaumes nieder. Ein Frösteln überlief sie, als sie daran dachte, wie Mr. Sutherland ihr die Hand gereicht hatte, zum Zeichen, daß er alles gesagt habe, was es aus seiner Sicht zu sagen gab. Es war das erste und das letzte Mal in ihrem Leben gewesen, daß sie eina nder die Hände geschüttelt hatten, ja das erste Mal überhaupt, daß Mr. Sutherland seine Tochter berührt hatte. Seine Hand hatte sich unerwartet kühl angefühlt, hart und kalt wie ein Stück Treppengeländer, und am folgenden Tag war er ebenso unerwartet zu einer »diplomatischen Mission« nach Britannien aufgebrochen, von der er noch immer nicht zurückgekehrt war, als Helen Ende Juli 1878, verkleidet als Reitbursche Henry, in höchst zweifelhafter Begleitung Hals
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