Im Tempel des Regengottes
kleingewachsene Frau, ein Bündel und einen Becher in Händen, und ging auf Mr. Sutherland zu. In einem Schlammloch unweit seiner Hängematte suhlte sich ein schwarz geflecktes Schweinchen, und die Frau bedachte das Tier mit einem kleinen Lächeln, ehe sie an das Lager des ruhenden Mannes trat. Sie beugte sich über ihn, entfernte das Tuch von seinem Gesicht und flößte ihm den Trunk ein, den sie anscheinend eigens für ihn bereitet hatte. So sehr Helen sich wünschte, einen Blick in Mr. Sutherlands Antlitz werfen zu können, die Frau verdeckte es mit ihrem Rücken, und als sie sich wieder aufrichtete, lag das Tuch wieder auf seinem Gesicht.
Die Frau war Ixpaloc, ihre Mutter, gekleidet in eine weiße Tunika, deren Säume bunt verziert waren. Ihre Bewegungen wirkten ruhig und sicher, ihr Blick war aufmerksam und warm. Helen sah sie an, voll wilder Sehnsucht, den langen, glänzend schwarzen Haarzopf, der auf ihrem Rücken hin-und herschwang, ihre dunkelbraune, an Armen und Handrücken nahezu schwarze Haut. Und daneben der mondbleiche Mann.
Nun machte sie sich an seinem Verband zu schaffen, breiten, fleischigen Blättern, die sie Schicht um Schicht von seinem Bein entfernte, bis eine tiefe Wunde zum Vorschein kam. Dabei summte sie unverwandt eine Melodie, die nur aus drei, vier sich wiederholenden Tönen bestand. Schon bei ihren ersten Berührungen hatte Mr. Sutherland begonnen, sich in seiner Matte zu winden, und binnen kurzem stimmte er seufzend und stöhnend in ihren Summgesang ein.
Ixpaloc öffnete ihr Bündel und holte Tücher und Tiegel hervor. Sorgsam säuberte sie die Wunde, dann strich sie nacheinander mehrere Salben auf. Unter dem weißen Tuch, das noch immer sein Gesicht verdeckte, seufzte und brummte Mr. Sutherland unterdessen mit einem Beha gen, das sich kaum mehr als schicklich bezeichnen ließ. Offenbar war er noch immer nicht bei Sinnen, und obwohl Ixpaloc lediglich seine Verletzung bestrich und mit einem frischen Verband versorgte, ging Mr. Sutherland zu einem rhythmischen Röcheln über, das eindeutig wollüstig klang.
Selbst im Traum war Helen über dieses schamlose Gebaren empört. Zumindest galt dies für Miss Harmess, während die India in ihr schon vor längerem in Ixpalocs kleine Melodie eingefallen war.
Im nächsten Moment saß Ixpaloc rittlings auf der Hängematte, genauer gesagt, auf der silbernen Mondsichel, ein wenig vornüber gebeugt, ihre kleinen, kräftigen Hände auf Mr. Sutherlands Brust gestemmt. Helen schnappte nach Luft, da machte der Traum einen Sprung, und auf einmal waren sie auf einem weiten Platz, im Schatten des wuchtigen Turmes, der das Dorf im Süden beschloß. Jene einförmige Melodie schwang noch immer in der Luft, aber jetzt war es ein heller Gesang aus Dutzenden Kehlen. Ixpaloc stand in der Mitte des Platzes, neben ihr lag Mr. Sutherland ausgestreckt am Boden, immer noch nackt bis auf jenen Schurz und sein Gesicht mit dem weißen Tuch verdeckt, das sich unter seinen Atemstößen senkte und hob. Eine große Anzahl junger Frauen säumte den Platz, in silberfarbenen Gewändern. Sie alle hatten ihre Arme erhoben, und obwohl der Himmel nachtschwarz war, mit vereinzelt blitzenden Sternen, war in der Luft ein silbriger Schein, hell wie hundert Monde.
Während die jungen Priesterinnen unablässig weitersangen, begann sich die liegende Gestalt in der Mitte des Platzes zu regen. Ein Zittern überlief den bleichen, hageren Leib, die Arme zuckten, die Beine streckten sich, und genau in diesem Moment wurde Helen bewußt, daß die Frau dort in der Mitte des mondbeschienenen Platzes nicht Ixpaloc war.
Aber wer sonst? Wie zum Hohn wandte die Frau ihr nun den Rücken zu, vergeblich versuchte sie einen Blick in ihr Gesicht zu erhaschen. Noch im Traum spürte sie, wie Empörung sie befiel: Ihr beide, dachte sie, Mutter und Vater, habt mir niemals euer Gesicht gezeigt!
Der Gesang der Priesterinnen erstarb. Nun erst bemerkte sie, daß der riesenhafte Turm eine Ruine war, die Mauern rauchgeschwärzt, mit klaffenden Löchern. Ihr Blick fiel auf den Mann, der ausgestreckt auf dem Lehmboden lag. Das Tuch war von seinem Gesicht geglitten, und es war Robert Thompson, keine Zweifel: seine Augen weit geöffnet, sein Antlitz wächsern und starr.
»Nein!« Sie schrie es und warf sich über den Leichnam, denn er war tot, tot, tot, und sie, sie selbst war die Frau in ihrem Traum. Sie packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn wieder und wieder, dabei unablässig schreiend: »Nein! Das nicht!
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