Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
Vom Netzwerk:
sonstigen phantastischen Vorstellungen bespiegelt. Doch zum ersten Mal spürte er nun den Ernst und die Kraft, die seinen Beschwörungen innewohnte, eine Kraft, dachte er plötzlich, die bloße Worte in Wirklichkeit verwandeln kann.
    »Ich werde hingehen«, sagte er unter diesem Eindruck, und noch während Mabo seine Worte übersetzte, wandte er sich mit einem Ruck um, so daß die Hände des Alten von ihm abglitten.
    Der Dampf über dem See hatte sich noch weiter verdichtet, Nebel schwebte über dem Wasser und bis hinauf zur Decke, in so gewaltigen Schwaden, daß die Nische auf der anderen Seite des Gewässers kaum mehr auszumachen war. Angestrengt spähte er hinüber und glaubte endlich zu erkennen, daß die India noch immer dort oben verharrte, reglos wie eine Skulptur und doch, schien ihm, eine Frau aus Fleisch und Blut. Sie trug ein silbernes Gewand, wie die Priesterin in der Legende, von der Iltzimin erzählt hatte - bedeutete das womöglich, daß auch sie eine Priesterin der Mondgöttin war? Er konnte sich nichts Rechtes darunter vorstellen, betete sie etwa den Mond an? Am liebsten hätte er ihr etwas zugerufen, durch den Nebel, über den See hinweg. Aber was denn, dachte er dann, er verstand ihre Sprache nicht, er kannte nicht einmal ihren Namen.
    Er wollte sich eben wieder umwenden, um den Alten zu fragen, da sagte hinter ihm Iltzimin:
    »Geh nun, Ajb'isäj -ju'um d'ojis. Nimm nur das Halbblut und Ajkechtiim mit. Deine drei fahlhäutigen Gefährten aber lasse hier. Sie achten die Maya nicht, und ihre Geister sind von Lügen und Gold verblendet.«
    Robert stockte in der Drehung, dann wandte er sich um so rascher um. »Drei Gefährten? Woher...?«
    Mit unbewegter Miene stand der Schamane vor ihm, der Blick seiner blinden Augen schien selbst Gedanken zu lesen. »Unsere Krieger«, sagte er, »haben den großen, gelb bepelzten Mann und die goldhaarige Frau heute früh unweit der Pyramide überwältigt.« Für einen Moment schien es Robert, als ginge ein listiges Grinsen über sein Gesicht. »Sei unbesorgt«, fügte Iltzimin hinzu, »von deinen Begleitern ist niemand verletzt worden oder umgekommen, und wenn du darauf beharrst, werden meine Krieger die drei auch mit dir ziehen lassen. Aber es wäre ein Fehler, der deine Aufgabe von vornherein erschwert.«
    Was ist mit Henry, ging es Robert durch den Kopf, den kleinen Diener hatte der Alte sonderbarerweise nicht erwähnt. Er sah in das zerfurchte Gesicht mit den eingefallenen Wangen und den milchigweißen Augäpfeln, und auf einmal meinte er den Anblick Iltzimins nicht länger zu ertragen. Er wandte sich ab und sah an dem Greis vorbei, auf die kleineren Götzenbilder, die unter dem riesigen, gemeißelten Kopf Cha'acs in die Felswand eingelassen waren. Es waren graurosa Masken, jede ungefähr so groß wie ein Menschengesicht, aber unförmig, wie aufgedunsen, mit hervorquellenden Augen und der roten Rüsselnase Cha'acs. Eines der Gesichter schien ihm bekannt - gräßlich bekannt, nicht wie eine Göttermaske, die er anderwärts schon einmal gesehen hatte, sondern wie das Gesicht eines wirklichen Menschen, den er gekannt hätte und hier furchtbar verwandelt wiederfände. Er starrte auf das Gesicht, es war das mittlere in der oberen Reihe der Fratzen, hypnotisch glotzten die verquollenen Augen zurück. Es kann und kann ja nicht sein, dachte er und wußte doch schon, mit untrüglicher Gewißheit, daß er keinem Irrtum unterlag.
    Das Gesicht in der Wand trug, nur furchtbar gedunsen und verstümmelt, die Züge von Youngboy, dem Wirt der Mahogany Bar, in dessen Gewölbe er wochenlang beinahe jeden Abend verbracht hatte. Er starrte an dem Schamanen vorbei, und sein Geist machte eine Reihe wilder Sprünge - nicht Youngboy... Bruder, vielleicht Zwillinge... daher die Ähnlichkeit, die seltsamen Namen... Oldboy - und während seine Gedanken wirbelten, bemühte er sich verzweifelt, äußerlich ruhig zu bleiben. Wenn Iltzimin bemerkt, dachte er, daß ich das Gesicht über dem Altar erkannt habe, ist es mit uns allen vorbei.
    »Sage ihm, daß ich zustimme«, forderte er Mabo mit erzwungener Ruhe auf. »Wir ziehen auf der Stelle weiter, gen Kantunmak. Erkläre ihm außerdem, daß meine Gefährten mich allesamt begleiten werden. Ich«, fügte Robert hinzu, und ein Schauder überlief ihn, ein Frösteln der Angst, aber mehr noch, ganz unerwartet, ein Schauder wilder, irrwitziger Lust, »ich, Ajb'isäj-ju'um d'ojis, Gesandter der Götter, will es so.«

FÜNF

1
     
     
    Am Morgen,

Weitere Kostenlose Bücher