Im Tempel des Regengottes
mit Bedacht diesen Augenblick gewählt, um Henry herbeizurufen, aber was um Himmels willen hatte sie vor?
Folgsam bückte sich Helen nach der Hängematte, die zusammengerollt am Boden lag, und begann sie zwischen zwei Baumstämmen auszuspannen. Da streckte Miriam, die dicht neben ihr stand, auf einmal eine Hand aus, als wollte sie mithelfen, die Seile um den Stamm zu schlingen, und streifte mit dem Handrücken wie zufällig über die Hemdbrust des Dieners. Mit fliegenden Fingern beendete Helen ihre Arbeit, dann verbeugte sie sich vor Miriam und schlüpfte aus der Hütte, ehe die falsche Nonne sich auch nur räuspern konnte.
Ihr Herz raste. Hatte Miriam etwas bemerkt? Es war unwahrscheinlich, sagte sich Helen, denn das Tuch, das sie unter ihrem weiten Hemd straff um die Brust gewickelt trug, preßte ihren Busen, der ohnehin nicht üppig war, zu den Proportionen einer Knabenbrust zusammen. Dennoch klopfte ihr das Herz noch immer bis zum Hals, als sie bereits in ihrer eigenen Hängematte lag, alle Kleidungsstücke aus ihrem Bündel über sich ausgebreitet, als Schutz gegen die nächtliche Kühle, aber mehr noch gegen Miriam. Wenn die Frau mit den grünen Katzenaugen einen Verdacht gefaßt hatte, würde sie nicht davor zurückschrecken, den schlafenden Pferdeburschen zu betasten, auf der Suche nach Hervorwölbungen, die ihren Argwohn bestätigten und vielleicht auch ihre Verderbtheit kitzelten.
Die Nachtstunden verrannen, und Helen wälzte sich weiter in unerquicklichem Halbschlaf. Wie gut, daß sie zumindest ihren Haarschopf geschnitten hatte, am Sonntag in aller Frühe, ehe sie in der Morgendämmerung aus dem Tor von Sutherland House geschlüpft war. Mit ihren kurzen Haaren und dem zum Turban geschlungenen Kopftuch sah sie tatsächlich wie ein schmächtiger Jüngling aus, bartlos zwar, aber die dunkelhäutigen Indios und die meisten Mestizen verfügten nur über äußerst spärlichen Bartwuchs, im Gegensatz zu Gentlemen wie Mr. Mortimer, die an jedem Zoll sichtbarer Haut fellartig behaart waren. Und ausgerechnet er und Climpsey führten ständig das Schmähwort von den »braunen Affen« im Munde! Wie dumm und ganz und gar ungerecht, dachte Helen. Glücklicherweise schien Mr. Thompson diese Vorurteile seiner Gefährten regelrecht zu verabscheuen. Ob er aber imstande wäre, eine braunhäutige Frau zu lieben?
Abermals stieß ein Nachtvogel, ganz in ihrer Nähe seinen klagenden Ruf aus. Ein Uhr früh, dachte sie benommen und spürte, daß sie nun endlich in den Schlaf finden würde. »Ich lag da wie tot«, sagte Mr. Sutherland in ihrem Kopf, »zwischen den Leichen meiner massakrierten Soldaten, und spürte, wie das Blut aus meiner Beinwunde rann. Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, doch als ich wieder zu mir kam, ruhte ich in einer Hängematte, nackt wie einst Adam, zwischen Bananenstauden und Kokospalmen, und dieses junge braune Weib bearbeitete mit allen zehn Fingern mein verdammtes Bein.«
4
Mr. Sutherland ruhte wahrhaftig in einer Hängematte, nackt bis auf einen Verband an seinem linken Schenkel und einen dürftigen Schurz, auf dem die silberne Mondsichel prangte. Selbst im Traum mußte Helen bei diesem Anblick lächeln, dem hageren, bleichhäutigen Leib mit dem gebogenen Mond in seiner Mitte. Doch ihr Lächeln verging, als ihr Blick höher glitt, zu seinem Gesicht, das mit einem weißen Tuch verdeckt war, wie bei einem Leichnam. Sie streckte die Hand nach ihm aus aber sie wagte nicht, ihn zu berühren.
Es war drückend heiß, die Sonne stach senkrecht vom Himmel herab. Ein würziger Duft erfüllte die Luft, von vielerlei Kräutern, vermengt mit dem Geruch von brennendem Holz. Offenbar befand sich ganz in ihrer Nähe eine Kochstelle, auf der etwas zubereitet wurde, eine Suppe oder ein heilender Trunk. Nahebei stand eine runde Hütte, aus deren Türloch der würzige Geruch zu dringen schien.
Allmählich erst wurde ihr bewußt, daß sie sich in einem weitläufigen Dorf befand, mit Dutzenden solcher Hütten, die geduckt und strohgedeckt zwischen Palmen und Apfelsinenbäumen standen. Weit im Hintergrund, schon am Ende der Siedlung, erhob sich ein gewaltiger Steinbau, rund und ragend wie ein Turm, dabei breit wie ein kleiner Berg. So hoch die Bäume des Regenwaldes auch waren, die das Dorf in alle Richtungen umschlossen, der steinerne Bau ragte über ihre Wipfel hinaus, sein flaches, von einem First umkränztes Dach schien fast an die Wolken zu stoßen.
Aus der nahen Hütte trat eine schlanke,
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