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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Sutherland einen vagen Halbkreis in der Luft.
    »Ich habe mir nichts vorzuwerfen, hörst du? Was damals passiert ist, dort draußen im Urwald... Niemand würde jemals zugeben, daß er von einem solchen wilden Weib...« Mr. Sutherland starrte sie an, aber es schien Helen, daß er durch sie hindurchsah, in waldreiche Vergangenheit. »Immerhin habe ich nachher alles unternommen, was in Anbetracht der Verhältnisse möglich war.« Er tastete nach dem Portweinglas und leerte es in einem Zug, ohne den Blick von Helen zu wenden oder vielmehr von den Erinnerungsbildern, die ihn mehr und mehr zu bannen schienen. »Ich habe gehandelt, wie meine Christenpflicht es mir befahl. Was also begehrst du von mir?« Er lachte auf, und sein Gesicht verzerrte sich. Jetzt erst wurde Helen bewußt, wie betrunken Mr. Sutherland tatsächlich war. »Du wirst niemals meinen Namen tragen, Tochter der wilden Ixpaloc«, murmelte er. »Aber ich werde dir berichten, und dann wirst du einsehen, daß mein Handeln gerecht und gottesfürchtig war.«

2
     
     
    In gemächlichem Trab zockelte sie auf ihrer Schecke hinter Mr. Mortimers Rappen her, das Packpferd am Zügel neben sich führend. Ihr Weg wand sich durch dichten, scheinbar gleichförmigen Dschungel, und das ganz und gar Verrückte war, daß mit jeder Meile, die sie hinter sich brachten, die Erinnerung in ihr lebendiger wurde. Sie selbst wußte, daß dies nahezu unmöglich war. Nach den Worten von Mrs. Harmess und Mr. Sut herland war sie keine zwei Jahre alt gewesen, als sie damals, in ein Tuch gewickelt, von jener India durch Wald und Schlucht bis Fort George getragen worden war. Und doch war es ihr bereits auf dem Floß und sogar tags zuvor während ihrer wilden Kutschfahrt so ergangen: Irgend etwas - oder jemand - in ihr reagierte auf den Wirbel von Sinneseindrücken, der auf sie eindrang, seit sie die Stadt hinter sich gelassen hatten.
    Nur am Rande registrierte Helen, daß Miriam, die seitlich vor Mr. Mortimer auf dem Rappen saß, gurrende Töne ausstieß, während der Kopf des Mannes wieder und wieder auf ihre Büste hinabstieß. Die beiden gebärdeten sich ungemein töricht, um nicht zu sagen schamlos, aber Helen war so sehr mit ihren Erinnerungen beschäftigt, daß es ihr leichtfiel, Miriams lüsternes Girren und Mr. Mortimers täppische Galanterien zu ignorieren.
    Im Reiten legte sie den Kopf weit zurück und schaute zu den Wipfeln empor, zwischen deren verworrenem Astwerk die Sonne hindurchblinzelte. So, ganz genau so mußte sie damals die vibrierenden Zweige und darüber den leuchtend blauen Himmel gesehen haben, als sie im Bauch-oder Rückentuch ihrer Retterin durch den Wald geschaukelt war. Wie uraltes Laub, vom Wind emporgewirbelt, stiegen Erinnerungen in ihr auf, traumhafte Bilder, tanzende Schatten, Gerüche und Klänge, so daß ihr die Kehle eng wurde, wie von einer Hand, die aus fernster Vergangenheit nach ihr griff. Närrin, schalt sie sich, war es denn überhaupt möglich, daß man Erinnerungen an die allerersten Lebensjahre in sich bewahrte - für lange Zeit vergaß - und schließlich wiederfand, wie vergilbte Stiche in einem Schrank, der jahrzehntelang verschlossen war?
    Auf ihren Wunsch hatte Mr. Sutherland an jenem Aprilmorgen sogar seine alte Militärkarte herausgesucht und ihr die Route gezeigt, auf der er selbst im Frühling '54 gen Westen geritten war, als Kommandant eines Fähnleins britischer Soldaten, beauftragt, die Rädelsführer der westlichen Rebellionen unschädlich zu machen. Auf demselben Weg war er ein gutes Jahr später nach Fort George zurückgekehrt, als einziger Überlebender seines Stoßtrupps, der zwei Tagesritte südwestlich von San Ignacio in einen Hinterhalt der Mayarebellen geraten war. Ohne Zweifel, dachte Helen, mußte auch ihre Retterin zwei weitere Jahre darauf eben diesen Weg entlanggewandert sein, zumindest war auf Sutherlands Karte kein anderer Pfad verzeichnet. Das kleine Mädchen am Körper tragend, das größere an der Hand, war die heldenmütige India zuerst viele Tagesmärsche ostwärts durch den Wald gezogen, dann im Kanu stromauf bis zur Biegung gefahren, in der sich heute Victoria Camp befand. Danach war sie auf dem Fahrweg gewandert, hundert Meilen gen Osten, bis endlich am Horizont das Meer geglitzert hatte und die Silhouette von Fort George vor ihnen aufgetaucht war.
    »Es war ein verdammter Unfall, verstehst du?« Mr. Sutherland hatte sein Versprechen tatsächlich gehalten, wenn auch vielleicht nur aus Trunkenheit, und ihr an

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