Im Tempel des Regengottes
nachdem sie von Mrs. Harmess die Wahrheit erfahren hatte, begab sich Helen noch vor der Frühstückszeit zu den Privatgemächern von Mr. Sutherland. Man schrieb den 15. April 1878, und während sie, ohne anzuklopfen, in die Bibliothek trat, sagte sich Helen, daß sie diesen Montag zeit ihres Lebens nie mehr vergessen würde. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt.
Die rostfarbenen Brokatvorhänge waren nur nachlässig zugezogen, und fahles Morgenlicht sickerte von den Hoffenstern her in den Büchersaal mit den deckenhohen Vitrinen, der zu jeder Tageszeit düster wirkte. Wohl deshalb hielt sich Mr. Sutherland zu Hause am liebsten in der Bibliothek auf, in der niemand außer Dorothy Harmess ihn stören durfte.
Als Helen nun ohne weiteres, wenn auch grau vor Übernächtigung, eintrat, fuhr Mr. Sutherland zusammen und faßte sie mit grimmiger Miene in den Blick. Er schien die ganze Nacht hier in der Bibliothek verbracht zu haben, bei reichlich Portwein und Zigarren. Jedenfalls saß er im Hausrock an seinem Lieblingsplatz vor dem offenen Kamin, und auf dem Teetischchen neben seinem Sessel standen zwei Portflaschen, eine bis zur Neige geleert, die zweite auf bestem Weg, ihrer Gefährtin nachzueilen. In Mr. Sutherlands Linker qualmte eine gewaltige Zigarre, sein sonst so streng gescheiteltes Haupthaar war zerrauft, und der Blick des Hausherrn wirkte entschieden glasig, auch wenn er sich weiterhin um eine gebieterische Miene bemühte.
»Mr. Sutherland, lassen Sie mich erklären.« Helen hob eine Hand, mit der anderen die Tür hinter sich schließend. Die Luft war hier drinnen zum Ersticken, aber sie hatte beschlossen, ihren Erzeuger ohne Zeugen zur Rede zu stellen. »Gestern abend hörte ich unfreiwillig mit, was Sie draußen im Patio mit einer jungen Frau besprachen. Dort verloren Sie auch diesen Brief.« Im Sprechen war sie auf ihn zugegangen, nun verharrte sie zwei Schritte vor ihm, das Papierfetzchen langsam vor seinen Augen schwenkend. »Ich bat Mrs. Harmess um Aufklärung und habe auf diesem Weg endlich die Wahrheit erfahren, die mir auf Ihr Geheiß, Sir, so lange vorenthalten worden war.«
Ihre Stimme klang brüchig, aber sie zwang sich, Mr. Sutherland unverwandt anzusehen und ihre kleine Rede, die sie sich in der Nacht zurechtgelegt hatte, zu Ende zu bringen. »Da jedoch auch Mrs. Harmess nur einen Teil dieser Wahrheit kennt, Sir, bin ich gekommen, um von Ihnen den Rest zu erfahren: Ich will wissen, wer meine Mutter ist, wie sie heißt, wie sie war und...« Nun mußte Helen sich doch unterbrechen und ihre Kehle frei räuspern. Aber sie würde vor Mr. Sutherland nicht in Tränen ausbrechen, das hatte sie sich in der Nacht geschworen. »... wie sie war und warum Sie meine Mutter verlassen und mich in Ihr Haus aufgenommen und gleichzeitig als Ihre Tochter verleugnet haben.«
Sie atmete tief durch, und es klang beinahe wie Schluchzen. Erst jetzt bemerkte sie, daß ihre Hände zu Fäusten geballt waren, als ob sie Mr. Sutherland zum Kampf herausfordern wollte. Als sie ihre Finger lockerte, fiel der Brieffetzen zu Boden, ein schweißfeuchtes Klümpchen Papier.
»Sie hat es immer gesagt«, murmelte Sutherland. Er war über ihren Worten bleich geworden, jetzt musterte er sie mit zusammengekniffenen Augen, als argwöhne er, eine Traumerscheinung vor sich zu sehen. »Von Anfang an hat deine Mutter... ich meine Dorothy... gesagt, daß du es eines Tages herausbekommen würdest. Aber ich konnte nicht... ich mußte...« Voller Erbitterung sah er sie an. »Ich mußte so handeln, verstehst du das nicht?«
Helen schüttelte den Kopf. Sie spürte ein Brennen in den Augen und wandte sich ab. »Nein«, sagte sie und versuchte so kalt und beherrscht zu klingen wie gestern abend die junge India, »nein, Sir, das verstehe ich in der Tat nicht. Wenn Sie sich gezwungen sahen, mich als Ihre Tochter zu verleugnen, warum ließen Sie mich in Ihrem Haus aufwachsen? Wäre es nicht viel einfacher gewesen - für Sie, Mr. Sutherland, und für Ihr von Anfang an in Lügen gewickeltes Kind -, wenn Sie mich in andere Hände gegeben und einen anderen Ort für mich bestimmt hätten, weit weg von Ihrem Haus?«
Mr. Sutherland starrte sie an, und obwohl sie es nicht über sich brachte, seinen Blick zu erwidern, hatte sie den deutlichen Eindruck, daß auch seine Augen glitzerten. Unsinn, sagte sie sich, der Zigarrenrauch wird seine Tränendrüsen gereizt haben, sonst gar nichts.
Mit der Zigarre in seiner Linken, die allerdings erloschen war, beschrieb Mr.
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