Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
das nicht verstehen, wieso wollte er nicht einlenken, warum konnte er nicht einfach glauben?
»Ihr werdet alle im Gefängnis landen«, fuhr Luke fort. »Aber dann seid ihr wenigstens berühmt. Das ganze Streben nach Aufmerksamkeit wird sich ausgezahlt haben, was? Ich wünschte nur, es gäbe die Todesstrafe noch in euerm Land. Wirklich. Weil man euch drei und dieses üble Ding da draußen ausschalten muss … für immer. Das ist das Einzige, was ihr verdient.«
»Du siehst das falsch, Luke aus London. Ich werde es dir beweisen. Ich werde es dir zeigen. Und dann wirst du ganz genau wissen, warum du hier sterben musst.«
58
Sie kamen wieder zu ihm. Alle zusammen.
Vor seinem Zimmer hörte er das Geplapper von Fenris, die nackten Füße von Surtr, die über den staubigen Boden schlurften, und den Widerhall von Lokis riesigen Stiefeln und das hastige laute Trippeln der alten Frau, die die Prozession durch das dunkle Haus anführte. Abgesehen von dem, was sie am Morgen draußen vor dem Haus gerufen hatte, hatte Luke die alte Frau noch nicht sprechen gehört. Aber irgendetwas schien sie jetzt aufzuregen. Obwohl sie sonst eher stumm blieb, hatte sie vorhin, bei der Auseinandersetzung dort unten im Erdgeschoss, offenbar großen Wert darauf gelegt, angehört zu werden.
Sie hatte ihre vom Alter gezeichnete Stimme erhoben und die jungen Leute ermahnt, in ihrem eigenartigen altertümlichen Singsang, der bis hier oben unter das schummrige Dach gedrungen war. Er vermutete, besser gesagt, hoffte inständig, dass sie sie angefleht hatte, noch nichts zu unternehmen. Ihn zum Beispiel jetzt nicht umzubringen, nicht hier in diesem Haus, das offenbar ihr Heim war. Aber dann sah er wieder ihr unerbittliches kleines Gesicht vor sich und bezweifelte, dass sein Leben für diese winzige Gestalt überhaupt von Belang war. Vielleicht hatte sie sich einfach nur über irgendetwas anderes mit Loki gestritten. Was immer das gewesen war, es machte Luke Angst.
Ihre Beziehung zu den Jugendlichen war ziemlich merkwürdig. Sie war weder mit ihnen verwandt noch mit ihnen befreundet. Möglicherweise war sie noch nicht einmal richtig mit ihnen verbündet. Während des Streits hatte er geglaubt herauszuhören, dass sie die Rolle einer zögerlichen Gastgeberin spielte und versuchte einen vernünftigen Kompromiss für die widerstreitenden Interessen zu finden. Zumindest hoffte er das, auch wenn Hoffnung für ihn eine gefährliche Sache war, der er sich nicht zu sehr hingeben durfte. Was auch immer Loki ihm angedroht hatte, was auch immer er ihm beweisen oder zeigen wollte – die alte Frau schien absolut dagegen zu sein.
Seit seinem Fluchtversuch am Morgen war er an Hand- und Fußgelenken mit Nylonbändern gefesselt. Diesmal würde er keinen Widerstand leisten können. Und auch die Möglichkeit, einfach wegzulaufen, war ihm genommen.
Die Tür zu seinem Zimmer wurde geöffnet.
Luke bemühte sich völlig ausdruckslos dreinzublicken, schaute sich aber das Gesicht der alten Frau ganz genau an. Sie starrte zurück. Ihr kleiner Mund war zusammengekniffen, sie wirkte verbissen.
Loki und Fenris trugen ihre Dolche in Scheiden an den Gürteln, aber sie wagten sich nur mit dem Gewehr in seine Nähe. Das Plastikband an seinen Knöcheln wurde von Fenris zerschnitten, damit er aufstehen und laufen konnte.
Er wurde an den Armfesseln aus dem Bett gezerrt und aus dem Zimmer geschoben. Draußen zogen sie ihn rechts den Korridor entlang und führten ihn durch das dunkle Haus nach oben, nicht nach unten und hinaus, wie er es vermutet hatte.
Am Ende des Flurs blieb die alte Frau am Fuß einer Treppe stehen und blockierte den Weg. Die Treppe war so klein und schmal, dass Luke der Gedanke kam, sie könnte vielleicht für Kinder gebaut worden sein. Im gelblichen Lichtschein der Lampe, die Loki in der Hand hielt, schimmerten ihre tiefliegenden
Augen böse und zornig. Gleichzeitig wirkte sie ängstlich, wie eine Mutter, die sich um das Wohlergehen ihrer Kinder Sorgen macht.
Dann drehte sich die kleine alte Frau um und trampelte mit laut klackernden Schritten vor Loki die Treppe hinauf, als wollte sie unbedingt als Erste oben ankommen. Jetzt, wo sie offenbar eingesehen hatte, dass sie die drei jungen Leute nicht von ihrem anmaßenden und unheilstiftenden Vorhaben abbringen konnte, hastete sie überraschend flink nach oben. Auf ihren kurzen Beinen hetzte die winzige Alte mit dem wirren weißen Haarschopf hinauf in den Schatten. Und während der Saum ihres fadenscheinigen
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