Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
er stolperte auf gefühllosen Beinen voran.
Die zerlumpten Silhouetten, Überreste einer schauerlichen, längst vergangenen Welt, starrten ihn von allen Seiten an. Er bemerkte andere Bewegungen um sich herum, kaum wahrnehmbar wie bei Blättern, die von einem leichten Lufthauch erzittern. Beinahe hätte er laut aufgeschrien, er konnte sich nur mühsam beherrschen, indem er sich einredete, dass diese geisterhafte Lebendigkeit nur vom Flackern des gelblichen Lichts der Lampe verursacht wurde. Aber er traute sich nicht, den Kopf zu drehen, um sich davon zu überzeugen, dass diese leichte Unruhe, die er bei den aufrecht stehenden, ausgedörrten und mumifizierten Gestalten bemerkt hatte, wirklich nur ein Trugbild war, das vom Lichtschein verursacht wurde oder vielleicht auch von einem Luftzug, der zwischen den alten Dachbalken hindurchdrang. Doch er konnte sich nicht in diese Spekulationen vertiefen, denn nun zogen die beiden kleinen Gestalten auf den Stühlchen seine ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Ein kleiner Mund öffnete sich und entblößte da, wo einmal Fleisch gewesen war, zahnloses knorpeliges Gewebe. Ein papiertrockenes Lid erzitterte, öffnete sich und gab den Blick frei auf eine tiefe dunkle Augenhöhle. Im Licht der Lampe schimmerten die schwarzen Augen auf.
Die Hand der zweiten kleinen Gestalt rutschte von der Lehne herunter in ihren Schoß, die Finger zusammengeballt, als hielte sie Würfel darin versteckt. Ihr Kopf senkte sich und hob sich wieder. Es sah aus, als würde diese kleine Person gerade aus einem tiefen Schlaf erwachen oder dagegen ankämpfen. Ein kleiner zierlicher Fuß bewegte sich, ein knochiger Fuß, der in einem spitzen Schuh steckte, dessen Leder im Laufe von Jahrhunderten rissig geworden war und sich dunkel verfärbt hatte.
Sie lebten.
»Das sind die Alten«, murmelte Loki.
Augenblicklich wurden Lukes Gedanken wieder klar. Ihre eigenen Toten und langsam Sterbenden waren für sie kostbar. Das Leben von Fremden hingegen bedeutete ihnen nichts. Die durften gejagt und geschlachtet werden wie Wild in den Wäldern, um sie anschließend in die schmutzige Krypta einer verlassenen Kirche zu werfen. Diese spröden sterblichen Überreste aber wurden aufbewahrt und andächtig verehrt.
»Hier verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart, alles ist eins«, flüsterte Loki.
Fenris nahm seine Hand von Lukes Mund. Luke erschauerte und machte ein Geräusch, als würde er in kaltes Wasser gestoßen. Und plötzlich verstand er, dass für diese alte Frau, die hier in den Wäldern lebte, nichts so wichtig war wie die Nähe zu ihren Vorfahren. Für sie lebten sie immer weiter. Sie lebte mit den Toten. Sie hielt die Verbindung zu den schrecklichen Dingen aus längst vergangenen Zeiten aufrecht. Die Kirche und der Friedhof waren Orte, an denen Opfer dargebracht wurden, dies hier hingegen war die letzte Ruhestätte von Angehörigen einer uralten Religion. Es war geradezu widerwärtig.
Luke stöhnte erneut auf, als ihm das Ausmaß dieser grauenhaften Zusammenhänge klar wurde. Es war weniger ein Erschauern als ein Schock. Als er ausatmete, klang es, als würde seine ganze Lebenskraft ihn verlassen.
Ein solcher Ausdruck schierer Verzweiflung schien an diesem Ort geradezu provozierend zu sein. Er bemerkte einen vertrockneten Kopf mit einem ebenso vertrockneten Mund, der zu seiner Linken an der Mauer lehnte und sich nun öffnete und sich ihm zuwandte. Und dann zuckte der Körper unterhalb dieses Kopfes, und die beiden Körper, die neben dieser Gestalt standen, regten sich ebenfalls, als wollten sie durch die modrige Düsternis näher kommen.
Luke senkte den Blick, um diese gespenstische Rastlosigkeit nicht weiter ansehen zu müssen. Aber in dem bräunlichen Licht bemerkte er, dass die Beine dieser aufrecht stehenden Gestalt unten in nackten Knochen endeten. Keine Füße, sondern Hufe. Und dass die Unterschenkel sich am Knie in die falsche Richtung bogen. Als hätte man den Gestalten die Gebeine von Tieren an den Rumpf genäht. Luke erinnerte sich an die dünnen Vorderläufe eines anderen Dings, das sie auf einem anderen, ähnlich blasphemischen Dachboden entdeckt hatten, und an die kleinen schwarzen mumifizierten Hände, die an den knochigen Gelenken befestigt gewesen waren.
Er wimmerte und stöhnte qualvoll auf.
Luke prallte zurück gegen Fenris’ Schulter, die ihn noch immer nach vorn drängte. Er kam sich vor wie jemand, der an den Rand eines Abgrunds geschoben wird oder immer näher an ein gefährliches,
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