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Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Titel: Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Nevill
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Surtr. Überall lagen Klamotten verstreut herum. Unordentliche, schmutzige und großspurige Jugendliche. Er ging hinein und suchte nach Lokis Jacke. Dann wandte er sich jäh um und schnappte nach Luft. Beinahe hätte er aus der Hüfte gefeuert, als er die drei Tiermasken sah, die sie am ersten Tag seiner Gefangenschaft
getragen hatten. Sie standen nebeneinander auf einem uralten rohen Tisch, der aussah, als wäre er von den Wikingern gezimmert worden. Drei hässliche Fratzen, die ihn anstarrten. Hatten sie diese Tierköpfe mitgebracht oder hier gefunden?
    Ihre Kleider stanken nach Schweiß und anderen Körperausdünstungen. In dem Durcheinander auf dem Boden fand er eine Motorradjacke aus Leder. An den Schultern war sie mit Nägeln gespickt, an der Hüfte und den Ellbogen mit Nieten beschlagen. Die Namen der Bands Celtic Frost, Satyrcon, Gorgoroth, Behemoth, Ov Hell, Mayhem und Blood Frenzy waren in weißer Schrift auf den Rücken geschrieben. In der einen Tasche klingelte etwas. Sechs Schlüssel, die an einem satanistischen Kreuz hingen. Was noch?
    Ohne nachzudenken, zog Luke den Reißverschluss der Jackentasche zu, aus der er den Schlüsselbund gezogen hatte. Dann fragte er sich »Warum denn?« und schüttelte den Kopf. Er fühlte sich, als liefe er durch Treibsand. Er schwitzte. War es wirklich so warm hier im Haus? Er erinnerte sich nur daran, dass er immer gefroren hatte. Das Haus schien zu schwanken wie ein Boot im Sturm. Das Gewehr war furchtbar schwer, und der Lauf stieß ständig gegen irgendetwas. Er fluchte laut. Sein Gesicht fühlte sich an, als würde es brennen, gleichzeitig war es nass.
    Wieder im Korridor warf er einen Blick in sein altes Zimmer und zu der kleinen Tür, hinter der die schmale Treppe auf den Dachboden führte. Er horchte. Eine Stimme war zu hören. Was war das? Er ging auf die Tür zu, aber die Stimme wurde schwächer. Er merkte, dass sie nicht von oben, sondern von draußen kam. Da sang jemand.
    Er ging zurück ins Zimmer von Loki und Surtr und sah durch die schmutzige Fensterscheibe. Im Obstgarten war niemand zu sehen. Er hielt inne und horchte wieder. Der Gesang kam von der anderen Seite des Hauses. Da er es nicht über sich brachte, den Raum, in dem sie ihn gefangen gehalten hatten, zu betreten,
stieg er wieder die Treppe hinab und kam atemlos, benommen und mit heftig schmerzenden Wunden in der Diele an.
    Er hob die Flinte, legte an und ging auf die Haustür zu. Die Tür zum Wohnzimmer war noch immer geschlossen. Auch die Küche, das sah er nach einem kurzen panischen Blick, war leer. Die Hintertür stand offen.
    Er stieg über Loki hinweg und spähte nach draußen.
    Die alte Frau stand neben der verkohlten Feuerstelle des Scheiterhaufens. Sie trug ihr hochgeschlossenes schwarzes Kleid und schaute zum Waldrand. Der regungslose Körper von Fenris, der auf der Wiese lag, schien sie nicht weiter zu interessieren. Sie war zwar sehr klein, aber ihre Stimme war kräftig und hallte weit in den Wald hinein. Der Singsang, den sie von sich gab, klang beinahe wie ein arabisches Lied, erinnerte Luke aber gleichzeitig an die Gesänge der nordamerikanischen Indianer. Die Melodie kletterte die Tonleiter auf und ab, die Worte klangen schwedisch. Mit ihren kleinen Händen klatschte sie einen Rhythmus dazu. Der Gesang war schlicht und wiederholte immer die gleichen Muster, wie bei einem Kinderlied. Wenige, immer gleiche Worte, die gleichen Töne, auf und ab, auf und ab. Schließlich erkannte er ein Wort: »Moder.«
    Dieses eine Wort wiederholte sie immer wieder am Ende des aus wenigen Worten bestehenden Verses: »Moder.«
    Mutter.
    »Nein«, murmelte er entsetzt vor sich hin. »Bitte nicht.«
    Schlagartig, als hätte man ihm einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gegossen, begriff er, was hier im Gang war. Er wiegte den Kopf hin und her, benommen und wie in Trance, und fragte sich, ob er womöglich schon in der Hölle angekommen war. Kein Mensch konnte so etwas ertragen. War er vielleicht doch zusammen mit seinen Freunden draußen im Wald gestorben und in einem endlosen Alptraum im Reich der Toten angelangt?

    Er schob den Schlüsselring über seinen kleinen Finger und hob das Gewehr.
    »He, aufhören. Aufhören hab ich gesagt!«
    Sie sang wie ein Kind, wie ein kleines Mädchen, hob den Kopf und reckte die Arme in den Himmel. Sie starrte in den Himmel und rief einen uralten Namen.
    Wenn es so weit ist, wirst du dann mit uns singen?
    Er hatte schon ein- oder zweimal den Verdacht gehabt, dass sie

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