Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
ihn nur benutzte, aber er hatte nicht gewagt, es sich wirklich einzugestehen. Das passte einfach nicht zu einer solchen kleinen seltsamen Dame, die Eintopf kochte und in einem selbst geschneiderten Kleid in ihrer Hütte herumtapste. Aber sie hatte ihn benutzt. Um die ungebetenen Gäste aus dem Haus zu bekommen. Er sollte sie ihr vom Hals schaffen, und nun lagen sie verblutet auf dem Boden. Sie hatten sich hier eingenistet, ohne zu fragen, und wollten nicht mehr gehen. Sie war zu alt, um sie selbst zu vertreiben, also hatte sie Hilfe gesucht. Fenris war ein bösartiger Kerl, dem sie alles Schlechte wünschte, das hatte er gleich in ihren kleinen schwarzen Augen erkannt. Sie hatte die drei Jugendlichen eine Weile herummachen lassen, damit sie sich in Sicherheit wiegten und glaubten, sie würde mit ihnen zusammenarbeiten und ihnen bei ihrem Vorhaben helfen. Aber dann hatte sie den Gefangenen befreit, damit er ein paar Dinge für sie erledigte. Er hatte den Wald überlebt und den Terror dieser Jugendlichen, weil sie eine Aufgabe für ihn hatte. Weil er der zornigste und gewalttätigste von allen gewesen war. Unter den vier Männern, die hierhergekommen waren, um zu sterben, war er derjenige, der den jungen Leuten mit den bemalten Gesichtern am ehesten gewachsen war. Ihn konnte sie für ihre Zwecke einspannen, jedenfalls für eine Weile. Er hatte ja von Anfang an das Gefühl gehabt, dass sich hier sein Schicksal erfüllte. Dass er aus einem ganz bestimmten Grund da war. Und das stimmte auch.
Sie hatte ihn von Anfang an manipuliert, damit er seine Rolle spielte, er musste sich zwischen Bäumen, Felsen und im Unterholz verlaufen, er musste den Weg gehen, den ihre Vorfahren gegangen waren. Und nachdem er die Angelegenheit für sie erledigt hatte, rief das kleine Mädchen nach seiner Mutter. Weil er noch immer geopfert werden sollte. Er war ja auch schon dafür gekleidet. Deshalb hatte sie ihm das Gewand und die Blumenkrone hingelegt.
»O Gott, bitte nicht.«
Mit zittrigen Armen zielte er auf die kleine Gestalt, die vor dem Visier hin und her hüpfte.
All das konnte einfach nicht wahr sein. Er dachte an Hutch, der blass, besudelt und nackt zwischen den Ästen hing. Er erinnerte sich an die Arme von Dom, die auf seinen Schultern gelegen hatten, kurz bevor er aufgeschlitzt und ausgenommen wurde wie ein erlegtes Tier von einem Jäger. Er dachte an den armen Phil, der völlig zerlumpt und verwahrlost mit der Kapuze auf dem Kopf durch den Wald gestapft war, bleich vor Todesangst. Und er erinnerte sich an die dünnen kleinen Gestalten, die sich wie Puppen bewegten, dort oben auf dem Dachboden, den es eigentlich gar nicht geben durfte. Er biss die Zähne zusammen, um nicht von diesem ganzen Horror überwältigt zu werden. Und drückte den Abzug durch.
Die alte Frau gab einen überraschten Schrei von sich, als würde sie von hinten gestoßen und alle Luft mit einem Mal aus ihr entweichen. Sie wurde hochgehoben, in die Luft geschleudert und fiel dann direkt aufs Gesicht. Und bewegte sich nicht mehr. Er hatte sie direkt ins Herz getroffen.
Luke ging über die Wiese zu ihr hin und schaute auf sie herab.
Der Saum ihres schwarzen staubigen Kleids war über die Knie gerutscht. Ihre Beine waren spindeldürr und mit struppigen weißen Haaren bedeckt. Die Haut war rosig. Die Beine waren an den Knien eigenartig geformt, wuchsen in die falsche
Richtung. Und am Ende ihrer Ziegenläufe waren kleine weiße Hufe zu sehen. Deshalb waren ihm ihre Schritte so unnatürlich laut erschienen.
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Luke kniete mit dem Gewehr über den nackten Oberschenkeln im Gras, genau zwischen dem toten Fenris und der Leiche der alten Frau, und schloss kurz die Augen.
Würde er jemals wieder aufstehen können? Das musste er doch. Er brauchte etwas zum Anziehen und Wasser zum Trinken. Außerdem einen Verband, irgendetwas weiches Sauberes, das er um seine Hüften und seine Brust binden konnte. Er spürte, wie die klaffenden Wunden sich öffneten und schlossen, wenn er sich bewegte und atmete. Sein linker Arm wurde langsam steif, er konnte ihn kaum noch heben. Er wurde immer langsamer, er konnte nicht mehr. Er war völlig außer Atem, seine Lungen funktionierten kaum noch. Jetzt eine Zigarette und er würde tot umfallen. Aber er würde jemanden umbringen, um eine Zigarette zu bekommen.
Er drehte den Kopf und sah zum Haus und hinauf zu dem spitzen Dach. Er war noch immer nicht am Ende. Er stand auf und zuckte zusammen vor Schmerzen. Das Geben und Nehmen, dieser
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