Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
Korditfilm legte sich auf sein Gesicht, drang in Nase, Augen und Mund. In seinen Ohren klingelte es.
Nein, er hatte sie nicht getroffen. Da war sie wieder, noch immer auf den Beinen. Sie rannte auf der anderen Seite des Obstgartens den Feldweg entlang. Als er das Gewehr wieder schussbereit hatte, war sie schon zwischen den Bäumen verschwunden, drüben auf der anderen Seite des Wegs, wo der dunkle Wald begann.
Enttäuscht warf er einen Blick auf den weißen Pick-up. Und ging darauf zu. Durch das Beifahrerfenster sah er Bonbonpapiere auf dem Boden, einen zerfledderten schwedischen Straßenatlas. Das Lenkrad befand sich auf der rechten Seite. Er öffnete die Tür. Ein Geruch nach Gummi, Öl, rostigem Metall und kaltem Zigarettenrauch kam ihm entgegen. Die Gerüche der alten Welt, jener Welt, die er mit Hilfe dieses Wagens wieder erreichen konnte. Das Wageninnere war völlig verdreckt. Fußmatten und Sitze waren mit Schmutz überzogen, das nackte Metall des Bodens war zu sehen. Die Gummis auf den Pedalen waren abgenutzt,
die Polsterung der Sitzbank teilweise aufgerissen. Ein türkisfarbener Angelköder hing vom Rückspiegel herunter. Hinten auf der Pritsche lagen eine geöffnete Werkzeugtasche, einige leere rote Benzinkanister und eine Menge leerer Bierflaschen. Das war bestimmt nicht ihr Wagen. Sie waren damit hierhergekommen, hatten ihn aber mit Sicherheit jemandem gestohlen.
Luke senkte das Gewehr. Dann beugte er sich in die Fahrerkabine und fasste nach dem Lenkrad. Er ließ seine Finger über das Armaturenbrett gleiten und suchte den Zündschlüssel. Er war nicht da.
Der Schlüssel, verdammt, der Schlüssel.
In diesem Augenblick entschied er, dass er hier so schnell wie möglich weg musste. Er drehte sich um und ging eilig zum Haus zurück, die eine Hand immer auf die klaffende Wunde an seiner Hüfte gepresst.
Dann blieb er abrupt stehen. Drehte sich um und ging zurück zu dem Gewehr, das er ins Gras gelegt hatte. »Scheiße.« Er konnte nicht mehr klar denken. Er war völlig benommen vor Hunger und Durst. Je mehr die Aufregung von ihm abfiel, umso müder und erschöpfter fühlte er sich. Dann aber durchzuckte ihn wieder der eiskalte Überlebenswille und peitschte neues Adrenalin durch seine Adern. Und so ging es hin und her, hin und her. Seine Beine waren bleischwer. Er konnte kaum noch klar sehen. Er spuckte aus und ging weiter.
Als er in die Küche zurückkam, war die alte Frau verschwunden. Er rief nach ihr: »Hallo, hallo!«, bekam aber keine Antwort.
Es gab keinen Wasserhahn und keinen Ausguss. Aber er fand sechs Mineralwasserflaschen, mit denen Wasser aus dem Brunnen ins Haus transportiert worden war. Wo der Brunnen war, hatte er bislang noch nicht herausgefunden. Er schraubte eine der Flaschen auf und trank gierig das lauwarme Wasser, bis sein Magen sich zusammenkrampfte und er alles wieder ausspucken musste.
Es gab auch eine Speisekammer. Darin war es dunkel und kühl. Er entdeckte einen Laib Schwarzbrot und biss in die harte Kruste. Er sog mehr daran, als dass er wirklich etwas abbiss. Das Brot war grobkörnig und schmeckte nach Blut. Auch ein Stück Pökelfleisch lag dort, und er bemerkte einen Sack mit Roten Beeten, außerdem Gläser mit sauren Gurken und Marmelade, die auf einem Regal aufgereiht nebeneinander standen, daneben ein paar verschrumpelte Äpfel, Salz sowie weiße Rüben und Karotten. Eine Packung mit altem Kaffee. Aber nichts, was er einfach zum Verzehren mitnehmen konnte. Den mageren Vorräten nach zu schließen, mussten die jungen Leute hier mit leeren Händen aufgekreuzt sein. Das Ende der Welt war ihnen offenbar wichtiger gewesen. Egal, er konnte später noch was essen. Wenn er hier weg war.
Der Schlüssel, verdammt, der Schlüssel.
Ganz langsam stieg er die Treppe hinauf ins obere Stockwerk, rückwärts und die ganze Zeit bemüht, die klaffende Wunde an seiner Hüfte geschlossen zu halten. Er musste sie dringend reinigen und verbinden. Am Ende der Treppe drehte er sich einmal um die eigene Achse. Richtete den Lauf seines Gewehrs in die Richtung, in die er dann ging. Vielleicht war Surtr ja zurückgekommen und hatte sich nach oben geschlichen. Wahrscheinlich nicht, aber er spürte, wie er sich anspannte, und fühlte sich so zerbrechlich, als müsste er beim geringsten Geräusch in seiner Nähe zerspringen.
Er lief den Korridor entlang. Warf einen Blick in das erste Zimmer. Auf dem Boden lagen zwei Schlafsäcke. Der eine blau, der andere gelb. Das war das Zimmer von Loki und
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