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Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Titel: Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Nevill
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ganze sinnlose Opferritus musste beendet werden. Die Tür zu diesem Wahnsinn musste endgültig geschlossen werden. Loki hatte von diesem Ort hier gewusst, also konnten auch andere davon wissen. Die Grenze zwischen dieser Welt und einer anderen viel älteren war an dieser Stelle dünner als
anderswo. Hier gingen diese Dinge ein und aus. Das hatte er jetzt verstanden.
    Seine Freunde waren abgeschlachtet worden wie Freiwild bei einer Treibjagd im Herbst. Sie waren gejagt, erlegt, ausgenommen und in die Bäume gehängt worden. Eine Rechnung musste beglichen werden. Das war er ihnen schuldig. Er würde alles tun, um diese Angelegenheit zu erledigen.
    Warum hatte die alte Frau dieses Ding nicht gerufen, um die Eindringlinge loszuwerden? Luke schloss die Augen. Ein Schauer lief über seine Haut. Sein Kopf schmerzte, als er darüber nachgrübelte. Aber es war niemand mehr hier, der ihm Auskunft geben konnte. Nicht hier draußen. Er dachte nach und zuckte zusammen wie ein verwundetes Tier.
    Wegen des Gewehrs natürlich. Und den Messern. Weil es womöglich verletzt worden wäre. Sie wollte es schützen. Es war ihre Mutter. Außerdem wollte sie ihre uralte Familie auf dem Dachboden vor Unheil bewahren. Ein anderer musste die Sache für sie erledigen. Und das war er gewesen. Vielleicht passte so alles zusammen.
    Aber für ihn war klar, dass manche Spezies besser vom Erdboden verschwanden. Er schlug die Augen wieder auf.
    Die Herrschaft von Moder und ihrer armseligen Anhänger musste beendet werden. Sie war eine überkommene Gottheit, die letzte schwarze Ziege des Waldes. Vermutlich hatte ihre jüngste und am ehesten vorzeigbare Tochter ihr Bestes gegeben, um den Kult hier oben im hohen Norden am Leben zu erhalten. Vielleicht war sie die Tochter gewesen, die man zurückgelassen hatte, damit sie sich um ihre Mutter kümmerte. Das konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen, er konnte sich das alles nur irgendwie zusammenreimen. Aber auf jeden Fall musste damit Schluss gemacht werden. Es durften keine Söhne oder Väter oder Freunde in den Bäumen aufgehängt werden. Nicht mehr, nie mehr.

    Luke ging zum Haus zurück. Jeder Muskel und jede Sehne schmerzte. Seine Wunden waren so tief, dass er nicht glauben konnte, dass sie jemals verheilen würden. Die Baumwipfel begannen sich zu bewegen. Der Himmel war jetzt vollkommen weiß, aber er war dankbar, dass es zu regnen begann. Die Tropfen fielen dicht und heftig. Es wurde kalt. Hier regnete es doch sowieso ständig. Und wenn es nicht regnete, dann schneite es. So ging das hin und her und hörte niemals auf.
    Er sah sich die Leiche von Fenris an. Dann bückte er sich, fasste nach dem blutbeschmierten Griff des Schweizer Messers und zog es heraus. Die Leiche setzte sich auf, der Kopf wackelte hin und her, als würde Luke ihn schütteln, dann fiel er wieder zurück. Blut und Boden, dachte Luke, als er die Klinge in die Erde stach, um sie zu säubern.
    Auf der Veranda legte er das Gewehr und das Messer weg und zog das weiße Opfergewand aus. Er warf es auf Lokis grässlich verzerrtes Gesicht. Die Blumenkrone behielt er auf dem Kopf, weil es ihm so vorkam, als hielte sie seine Gedanken zusammen. Dann blickte er durch den Hausflur zur Treppe, die nach oben führte.

67
    Er ging durch die Tür am Ende des Flurs im ersten Stock und stieg zum Dachboden hinauf. Langsam und unsicher tapsend, so dass sie ihn bestimmt alle kommen hörten. Als er oben in der warmen, staubigen und zeitlosen Dämmerung ankam, war allen klar, dass er wegen ihnen gekommen war.
    Er stolperte durch die Dunkelheit, nackt und blutbeschmiert wie ein Neugeborenes. Er hatte kein Licht mitgebracht. Ihm hatte die Kraft gefehlt, im Erdgeschoss nach einer Lampe und Streichhölzern zu suchen. Aber er erinnerte sich noch, wie es hier oben ausgesehen hatte, und wusste, dass die kleinen Gestalten alle gesessen hatten. Viel mehr konnten sie offenbar nicht tun, sie waren zu alt und zu schwach. Sie waren nur noch in der Lage, vor sich hin zu murmeln.
    Das Geräusch des Regens, der aufs Dach prasselte, hallte in dem leeren Dachboden wider. Trotzdem konnte er sie um sich hören. Es klang wie ein Knistern oder Kratzen, als kämen ihre Stimmen aus einem alten Radio, das ganz leise gestellt worden war. Und diesmal lachten sie nicht. Sie klangen verwirrt wie alte Leute, die in ihrem Bett aufgewacht sind und sich nicht erinnern können, wo sie sich befinden.
    Mit gesenktem Kopf horchte er auf ihr Gemurmel und ging zum anderen Ende des Dachbodens.

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