Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
gelegt hätten. Sogar er und Hutch allein hätten sich ganz schön anstrengen müssen, wenn sie diese »kürzere« Route gegangen wären. Wenn einer von ihnen einen Unfall gehabt hätte, dann wäre es sehr kritisch geworden. »Ganz falsch, Hutch, das war ganz falsch.«
Vorsichtig drehte er den Kopf, ohne die Beine zu bewegen, und starrte hinab auf den Ast, der sein ganzes Gewicht trug, um sicherzugehen, dass seine Füße sich nicht plötzlich selbstständig machten. Er sah das kleine Zelt dort unten. Er hob den Blick wieder und entdeckte die Stelle, an der sie vor drei Tagen diese gottverlassene Wildnis betreten hatten. Dahinter konnte er die ungleichmäßige Silhouette eines Gebirges erkennen. Ungefähr ein Drittel der Strecke, die sie bereits zurückgelegt hatten, blieb noch übrig bis zum südlichen Zipfel des Waldes. Wenn er allein ging, ohne von Dom und Phil gebremst zu werden, würde er, nachdem er sich ausgeruht, viel Wasser getrunken und seine
letzten Energieriegel gegessen hatte, den Waldrand möglicherweise schon gegen Mitternacht erreichen. Das bedeutete, dass er drei Stunden lang nur mit einer Taschenlampe als Lichtquelle unterwegs sein würde. Vielleicht wäre es doch besser, bis morgen früh zu warten, dann konnte er um die Mittagszeit das Ende des Waldes erreichen, wenn er es riskierte, eine weitere Nacht hier zu verbringen.
Bevor er sich entscheiden konnte, wann er sich zum nächstliegenden Ausgang aus dieser grünen Hölle durchschlagen würde, ertönte unter ihm eine laute Stimme. Nein, es waren zwei Stimmen. Eine unartikuliert, die andere rief einen Namen: »Phil, Phil, Phil.« Jede Wiederholung klang lauter und akzentuierter, bis die Stimme schließlich laut schrie. Dann verwandelte sie sich in lautes Jammern: »O Gott. O Gott.« Diese zweite Stimme kam aus der Nähe. Sie kam aus dem Zelt.
Oben zwischen den Ästen war Luke unfähig, einen Fuß zu bewegen. Seine Hände umkrampften die Zweige. Der dicke Ast, auf dem er stand, brannte unter seinen Füßen und schien mit seinem Fleisch verschmelzen zu wollen.
Es ist gekommen, um ihn zu holen. Es kann mich hier oben nicht sehen. Beweg dich nicht, beweg dich nicht. Es ist noch immer hell, du kannst weglaufen. Warte noch. Warte hier oben. Warte ab.
Aber dann senkte sich sein Kopf und hob sich wieder, senkte sich und hob sich, und er schaute durch die Zweige hindurch hinab zu seinen Kameraden. Er drehte den Oberkörper vorsichtig zur Seite und spähte durch das grüne Gewirr und die schwarzen Äste hindurch nach links unten, wo die Schreckensschreie und Hilferufe herkamen.
Dort war das Zelt. Aber wo war Dom?
Da stand er ja, aufrecht, einige Meter entfernt von dem graugrünen Zelt und sah leicht nach vorn gebeugt den Hügel hinab. Aber jetzt schrie er nicht mehr.
Luke begann mit dem Abstieg. Seine Beine zitterten, während
er verzweifelt versuchte, durch die Zweige hindurch einen Weg nach unten zu finden, der ihm aber immer wieder von dem grünen Dach verstellt wurde, das ihm Halt suggerierte, aber nicht bot, bis er endlich mit den Füßen die Äste fand, auf denen er hochgeklettert war. Er bemühte sich, nur direkt vor sich zu sehen, damit er seine Füße sicher platzieren konnte, nicht weiter. Bloß nicht bis hinunter auf den weit entfernten Boden schauen, auf den er fallen könnte, wenn ihm schwindelig wurde. Wenn er den Halt verlor, würde er sich zweifellos den Hals brechen.
»Dom!«, rief er laut. Und noch mal: »Dom!« Er bekam keine Antwort. Trotzdem stieg er weiter nach unten, Ast für Ast. Seine Stimme klang kraftlos und kläglich, irgendwie lächerlich so weit hier oben. Mit zittrigen Knien rutschte er über die feuchten Äste, die viel zu weit voneinander entfernt lagen, um ihm einen bequemen Abstieg zu ermöglichen. Verzweifelt drängte er sich an den Baumstamm, um nicht zu fallen. Er kletterte hinab wie ein verängstigter blinder Mann, der eine Leiter hinuntersteigt und weiß, dass er in den Tod stürzt, wenn er ausrutscht. Sein ganzer Körper bebte vor Angst und Anspannung, Adrenalin strömte durch seine Adern. Ast für Ast, bis er an den Armen über dem Erdboden schwebte und sich schließlich auf den steinigen Grund fallen ließ.
Stechende Schmerzen schossen durch seine Füße, er taumelte zur Seite und fiel mit dem Gesicht voran auf eine knorrige Wurzel, die aus dem felsigen Boden herausragte. Der Schmerz, den er jetzt spürte, klärte seinen Kopf und machte ihn wütend. Er erhob sich auf die Knie, richtete sich auf und stand auf
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