Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
gekümmert. Hab mich gebückt, um nachzusehen, ob er funktioniert. Dann hörte ich seinen Schrei …« Dom gelang es, das Beben in seiner Stimme zu unterdrücken und er sprach völlig ausdruckslos und leise zu Ende: »Er ist weg.«
Luke hockte sich neben ihn, das Messer noch immer in der Hand. Er wandte den Blick ab von Dom und dem Zelt und ließ ihn über die umliegenden Steine und Felsbrocken schweifen, um sicherzugehen, dass sich ihnen nichts näherte.
»Jesus. Jesus Christus.« Er wollte das nicht hinnehmen. Dass Phil jetzt auch weg war und irgendwo dort unten im undurchdringlichen Schatten ausgeweidet wurde … Er hielt inne und verdrängte den Gedanken an etwas erschreckendes, rotes und feuchtes, denn es war alles ohnehin schon viel zu schlimm.
Aber das konnte einfach nicht sein. Das alles hier. Vielleicht würde er, wenn er nicht so müde wäre, wenn nicht jeder Muskel unter seiner schweißbedeckten Haut höllisch wehtun würde, wenn die Erschöpfung ihn nicht übermannt hätte, ganz einfach wahnsinnig werden. Nach drei Tagen in dieser Gegend war er am Rand des totalen Zusammenbruchs. Seine Persönlichkeit
verschwand, übrig blieben nur Instinkt und Angst. So wird sich wohl ein Hase fühlen. Hier draußen musste man kein empfindsames Wesen sein, sondern einfach nur die ganze Zeit Angst haben und schnell sein, wenn die Welt um einen herum sich plötzlich in eine Bedrohung verwandelte. Wenn es zu ruhig war und alles einfach erschien, dann kam der Tod.
Er sollte jetzt gehen. Sich allein auf den Weg machen. Das sollte er wirklich tun. Er stand auf und schaute auf der anderen Seite des Hügels hinab. Dieses Ding schnappte sich einen nach dem anderen von ihnen und verschwand dann. Wenn sie sich trennten, wäre es vielleicht irritiert. Er sollte das letzte Licht des Tages nutzen und seine letzten Kräfte, um loszulaufen und nicht mehr zurückzusehen.
Aber würde das Ding dann nicht sein Verhalten ändern und sie beide heute Nacht umbringen? Zuerst den hilflosen Dom hier oben, der einsam im Zelt saß, und dann ihn irgendwo dort unten im Unterholz, wenn er völlig erschöpft und kaum noch bei Bewusstsein voranstolperte. Sie wären eine leichte Beute.
Der Traum. Die Stöcke.
Dom sah ihn entgeistert an. Seine Augenränder waren gerötet. Er war schmutzig, verletzt und völlig zerzaust und trug nur seine Boxershorts und die Regenjacke. Er sah wirklich merkwürdig aus. Etwas ballte sich in Lukes Brustkorb zusammen. Er schauderte. Dann ging er in die Knie und legte einen Arm um Doms Schultern. Schloss die brennenden Augen. Dom zitterte heftig, aber seine Hand legte sich um Lukes Hüfte, und er klammerte sich an ihn wie ein Kind, das furchtbare Angst hat.
Inmitten des unaufhörlich nieselnden Regens saßen sie da und hielten sich eine ganze Weile lang fest.
39
Die Dunkelheit brach herein, und es würde kein Feuer geben. Nur ihre Taschenlampen und die kleine blaue Flamme des Campingkochers, und sowohl Gas als auch Batterien mussten sie sich bis zum Morgen gut einteilen. Sie saßen Rücken an Rücken vor dem Zelt, nachdem sie ihre letzten Energieriegel und den Rest des Zuckers verzehrt hatten. Das beruhigte sie für eine gewisse Zeit. Der dünne Zustrom an Nährstoffen in ihrem Blut führte dazu, dass sie ihre Fassung wiedergewannen und sich wieder halbwegs normal fühlten.
Von Südwesten her kam ein stetiger kalter Wind. Die Bäume unterhalb der Anhöhe wurden hin und her bewegt, und es wirkte, als würde der Wald immer wieder ungeduldig ein- und ausatmen. Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft war unangenehm kühl. Um sie herum breiteten sich die Schatten der Nacht aus, unter dem Himmel hingen dicke dunkle Wolken. Schon bald würden sie nichts mehr sehen können.
Sie saßen auf Phils Schlafsack, um sich vor der vom felsigen Boden aufsteigenden Kälte zu schützen. Jeder suchte mit den Augen die Umgebung im Winkel von 180 Grad ab. Sie hielten Wache, zwei einsame Gestalten, die verzweifelt versuchten, nicht an das zu denken, was Phil widerfahren war.
Dom brach in freudloses Lachen aus und brach damit das
lange Schweigen, das begonnen hatte, als sie sich gegenseitig umarmten. » Alles, mit dem ich wenigstens für eine Woche nichts mehr zu tun haben wollte … jetzt sehne ich mich danach zurück. Es ist total verrückt.«
Luke spürte das Gewicht von Doms Schultern, das immer mehr auf ihm lastete. Er hätte nie gedacht, dass ein Körper so schwer sein konnte, so massig. Er räusperte sich. »Das ist doch nicht
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