Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
und nach seiner Taschenlampe suchte – er war sich sicher, dass er vorhin noch eine gehabt hatte –, war Dom schon wieder weg.
Luke setzte sich auf einen Stein und schlief ein.
Er begann eine Unterhaltung mit Charlotte im Prince-Of-Wales-Pub zu Hause in Holland Park. Es war ein sonniger Tag, und sie saßen draußen, genau wie bei ihrer zweiten Verabredung, als sie in einem kurzen Rock aus der U-Bahn-Station gekommen war, mit Lederstiefeln, und er kein Wort herausbekommen hatte vor lauter Erstaunen und Begehren, weil sie bei ihrem ersten Treffen Turnschuhe und Jeans getragen hatte. Damals war er nach Hause gegangen und zufrieden gewesen, dass ein Mädchen sich seine Nummer hatte geben lassen, obwohl es ihm eigentlich egal war, ob er sie wiedersehen würde oder nicht. Aber dann, beim zweiten Mal, war er so hingerissen gewesen von ihr, dass er gleich dort im Biergarten beschlossen hatte, es mit ihr zu versuchen. Er sagte ihr, sie sei ein »Feger«, und sie lächelte. Sie streckte die Hand aus und berührte sein Gesicht, biss sich auf die Unterlippe und sagte, er sei »süß«. Sie saßen stundenlang dort. Sie küssten sich und erzählten einander alles über ihre Arbeit, ihre Herkunft, ihre Familien, ihre letzten Beziehungen, all das, worüber man sich so unterhält, wenn man sich mit jemandem trifft, den man auf Anhieb gern hat.
Als er nun aufwachte, weil der Schmerz in seinem Hals und das Pochen hinter seiner zerschnittenen Stirn ihn in die Wirklichkeit zurückholte, sprach er weiter mit ihr, bis er merkte, dass er allein war und gegen einen Baumstamm gelehnt mitten im Wald hockte. Seine Hose hatte sich mit Feuchtigkeit vollgesaugt, die bis in seine Unterhose vorgedrungen war. Er war völlig durchnässt und zitterte vor Kälte. Wo war denn bloß sein Schlafsack?
Durch die Äste über sich konnte er erkennen, dass der Himmel sich blassgrau verfärbte. Der Morgen brach an. Er schaute auf die Uhr: sechs Uhr. Er hatte drei oder vier Stunden geschlafen. Warum hatte das Ding ihn nicht getötet? Er grübelte darüber nach, war aber zu müde und zu sehr mit seinen Schmerzen beschäftigt,
um zu einem Ergebnis zu kommen. Er war so durstig, dass er nicht einmal mehr schlucken konnte. Seine Lippen waren salzverkrustet.
Ganz langsam bewegte er sich auf allen vieren vorwärts.
Nur noch ein paar Meter, dann legst du dich hin und lässt dich von der Dunkelheit aufsaugen.
Er hielt sich den Kompass vor das heile Auge und sah nichts. Er ließ den Kompass fallen und spürte, wie er an dem Band hängen blieb, das er sich um seinen Hals gelegt hatte. Wie ein Pendel schwang der Kompass hin und her, aber er bekam ihn in der Dunkelheit dicht über dem Erdboden einfach nicht zu fassen.
Geh einfach diese Steigung hinauf bis zu dem Baum da.
Dort unten am Ende der Wiese sind zwei Steine, auf die du dich setzen kannst.
Zwischen diesen beiden Fichten durch, dort wo das Unterholz sich lichtet.
Hinter diesem Gebüsch dort jenseits der Kiefer könnte es Wasser geben. Es sieht genau so aus wie ein Platz, an dem es Wasser gibt.
Die Bäume dort oben auf der Anhöhe werden dünner. Lass uns einfach mal seitlich da hochklettern. So ist es leichter.
Auf dem Gipfel eines Erdhügels, um den herum der Wald sich teilte, als würde er Platz schaffen wollen, damit die Menschen sich unter einem einzeln stehenden Baum versammeln konnten, setzte er sich hin und fühlte sich eigenartig geborgen. Hier erwärmte sich sein Körper wieder, und der Schmerz in seinem Kopf ließ nach.
Er schlug ein Auge auf und sah über die Spitzen seiner dreckigen Stiefel hinweg den Hügel hinunter. Der Morgen begann strahlend rot. Oder gaukelte sein Auge ihm das nur vor? Die Sonne schien zu seiner Linken durch die Bäume, dort war Osten. Er drehte den Kopf, um in diese Richtung zu sehen, mit dem einen Auge, das er noch offen halten konnte. Und jenseits der verstreut wachsenden Bäume dort unten auf dem felsigen
Grund entdeckte er ein breites weißes Feld, das sich unendlich weit ausdehnte. Dort gab es keine dicken schwarzen Baumstämme und kein dichtes Astwerk, die das rötliche Licht abfingen. Er blinzelte mit seinem guten Auge in einen weiten hellen Ozean aus purpurnem Licht. Und er fragte sich, ob das das Ende dieses schrecklichen Waldes war oder der Anfang der Hölle oder einfach bloß das Ende seiner geistigen Kräfte. Es machte keinen Unterschied, denn er würde sich nicht mehr bewegen. Er konnte nicht mehr. Nicht ein einziger Schritt, keine Bewegung in irgendeine
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