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Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Titel: Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Nevill
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angriff. Genau jetzt. Dass es geduckt und schnell aus dem Unterholz hervorbrach. Ihn aus dem Schatten ansprang. Er war bereit, in seine teuflische Fratze zu sehen. Er würde diesen Anblick und den Gestank ertragen, selbst wenn das Ding dicht vor ihm wäre. Mit der letzten Kraft, die ihm verblieb, würde er sich gegen den monströsen Körper werfen. Und dem heimtückischen Mörder mit seinem Schweizer Armeemesser in einem letzten Aufbäumen eine tiefe Schnittwunde zufügen.
    Er dachte an einen schwarzen Bart, getränkt mit heißem dampfenden Blut, eine rote Schnauze im fahlen Licht, die sich über die nackten Körper und herausgerissenen Innereien seiner Freunde hermachte. Sie auseinanderzerrte und zerfetzte, bevor es die schlaffen weißlichen Körper als groteske Inszenierung in die Bäume hängte.
    Zu welchem Zweck eigentlich? Warum musste es unbedingt solche komplizierten und ausgeklügelten Schöpfungen wie seine Freunde zerstören? Warum war es so erpicht darauf, alle Erinnerungen und Gefühle und Gedanken, die sie ausmachten, zu vernichten? Seine Freunde auszumerzen?
    Tränen schossen in Lukes Augen.
    Sie hatten sich in ihrer Jugend zusammengefunden. Hatten sich zueinander hingezogen gefühlt und waren dauerhafte Bindungen eingegangen zwischen all den anderen Menschen an der Universität. Das war damals zu einer ganz bestimmten Zeit auf eine ganz bestimmte Art geschehen und ließ sich nicht wiederholen. Sie hatten zusammen Musik gehört und sich ganze Tage lang pausenlos unterhalten. Gleich nach dem Aufwachen hatten sie sich getroffen. Sie hatten miteinander nicht nur den gleichen Raum, sondern auch die gleichen Gedanken geteilt. Sie hatten die Anerkennung der jeweils anderen gesucht, und es hatte ihnen gefallen, sich gegenseitig zum Lachen zu bringen. Sie waren ein tolles Team gewesen, bis das Leben und die Frauen, die Arbeit und der Drang, sich woanders zu beweisen, sie voneinander
getrennt hatten. Aber von ihrer einstigen Vertrautheit war noch genug übrig geblieben, um sie ab und zu zusammenzubringen. Zuletzt hier draußen. Nach fünfzehn Jahren. Um sich gegenseitig wiederzufinden.
    Seine Freunde waren umgebracht worden, ohne dass er darin einen Sinn erkennen konnte. Sie waren umgebracht worden, wie viele Leute umgebracht wurden. Ganz einfach, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Nach all der Zeit des Entwickelns, des Wachsens und Erwachsenwerdens, bei aller Vorsicht und der Fähigkeit, selbst herbeigeführte Katastrophen und eigene Fehler zu überleben, sich zu regenerieren, zu kämpfen und sich durchzusetzen, waren sie ganz einfach durch den falschen Wald gegangen. Und das war’s dann.
    Komm schon raus, du dreckiges Schwein!
    Er knurrte vor sich hin und sehnte sich nach einem wilden Wahn, der ihn aus dieser lähmenden Situation befreite, aus diesem traurigen Augenblick, in dem er die Schwere seines Verlustes deutlich spürte. Denn was brachte einem schon dieses ganze vernünftige Denken? Man führte ein kurzes Leben, starb und wurde vergessen. Nur um mal eben mitzubekommen, dass es genug Gründe gab, wahnsinnig zu werden oder sich umzubringen. Hier draußen wurde man abgeschlachtet wie Vieh und dann in eine modrige Krypta geworfen. Hinein in den Haufen gammeliger Knochen von irgendwelchen toten Menschen und Tieren.
    Das waren meine Kameraden.
    Der Regen prasselte auf ihn herab, und der Wind fuhr lautstark durch die Baumwipfel. Aber niemand antwortete auf sein Rufen und nichts griff ihn an, jetzt, wo er bereit dafür war und keine Angst mehr empfand, wo er seinen geschundenen und erschöpften Körper und seinen gepeinigten Geist liebend gerne aufgegeben hätte.
    Ganz allein stand er da, die Hände an beide Seiten des Kopfs
gelegt. Darin spürte er den pochenden Schmerz, den die zermürbenden Anstrengungen der letzten Minuten verursacht hatten. Er schloss die Augen und dachte an die, die verschwunden waren, an die Freunde, die er verloren hatte. Seine besten Freunde, wie er jetzt erkannte. Aber nun waren sie ihm ohne Vorwarnung und ohne Ankündigung genommen worden.
    Wie es euch ergangen ist, so wird es auch mir ergehen. Schon bald.
    Er drehte sich um und stolperte in den Wald hinein.

45
    Luke lag auf dem Rücken und sah hinauf in das grüne Dach, bestehend aus Millionen Blättern und einem endlosen Gewirr von Ästen und Zweigen. Hier und da konnte er den Himmel erkennen, er war dunkel. Einen Augenblick lang fragte er sich, wo er überhaupt war. Dann erinnerte er sich und schloss die Augen

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