Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
schmuddeligen Stoff, der über seinen Augen hing, während sein Körper wieder zu sich fand und aufgeregt seine Möglichkeiten abschätzte.
Ganz langsam hob er seinen bleischweren geschwollenen Kopf
von dem tranigen Kopfkissen, und der Geruch einer staubigen Decke stieg ihm in die Nase. Er neigte den Kopf ein wenig nach vorn, kniff die Augen unter der Bandage zusammen und schaute nach unten.
Vor ihm erstreckte sich die hügelige Landschaft einer altertümlichen Bettdecke aus zahlreichen verschiedenfarbigen, ausgeblichenen und schmutzigen Flicken; ungleich große viereckige Stofffetzen bedeckten seine Füße. Die Decke reichte genau bis zu dem hölzernen Rand des Bettes, auf dem er lag. Es sah aus, als befände er sich in einem Kasten oder einem Sarg. Zwischen den seitlichen Begrenzungen war er tief eingesunken und lag unter zahllosen alten Tüchern. Es war eine Art Bett, aber so gebaut, dass man Angst haben musste, dass es einen Deckel dafür gab.
Vorsichtig legte er den Kopf auf die linke Seite. Im blassgrauen Licht sah er neben dem Bett einen Schrank aus dunklem Holz. Ein hölzerner Krug stand neben einem ebenfalls aus Holz gefertigten Becher. Unwillkürlich musste er schlucken, und seine wunde Kehle schmerzte.
Behutsam drehte er sich auf die linke Seite und krümmte sich zusammen. Dann richtete er sich auf einem Ellbogen auf und streckte die Hand nach dem Becher aus. Er war schwer. Und gefüllt mit schmutzigem lauwarmen Wasser. Er trank es aus und registrierte erst hinterher den rostig-mineralischen Geschmack, der sich unangenehm in seinem Mund ausbreitete. Wasser aus der Natur. Aus einem Brunnen.
Ein schlagartiger heftiger Schmerz meldete sich hinter seinen Augen, und seine Lider fielen zu, als wollten sie sein Bewusstsein von der Außenwelt abschirmen. Seine Muskeln erschlafften vor Erschöpfung nach dieser kleinen Bewegung, die kaum der Rede wert war. Bin ich wirklich so kaputt? Er ließ sich wieder in die Kuhle zurückfallen, die sich während seines offenbar längeren Aufenthalts in diesem Bett gebildet hatte. Er schien jetzt tiefer
einzusinken als zuvor, tief hinein in eine übel riechende Kuhle ungelüfteter Decken.
Nun, als er wieder ruhig dalag, gingen die Schmerzen in seinem Kopf zurück. Der große Schluck Wasser hatte eine beruhigende Wirkung und schläferte ihn wieder ein.
Er war gerettet. »Gerettet«. Er war diesem schrecklichen Wald entkommen und auch diesem Ding, das darin sein Unwesen trieb. Er lebte und war in Sicherheit. Gerettet. Lebendig. Gerettet. Tränen der Erleichterung liefen über sein Gesicht. Er schluchzte. Und dann fiel er in einen tiefen Schlaf.
48
Es sind Menschen im Zimmer.
Schon wieder?
Sie beugen sich über dich, während du in einer Metallwanne stehst, und sie starren deinen bleichen Körper an. Sie sind alt. Wirklich sehr alt. Jeder Zentimeter ihres Gesichts ist zerfurcht, ihre gelbliche Haut völlig zerknittert, fast schon runzlig wie unter den Augen, deren Blinzeln man kaum ausmachen kann, so tief liegen sie in den Höhlen. Aber wenn einer von ihnen den Kopf vorstreckt in diesen fahlen Lichtschein, dann kann man die milchig-blaue Hornhaut erkennen, die eine verfärbte Iris überzieht.
Eine dieser Gestalten könnte eine Frau sein, aber sie hat kaum Haare auf dem Kopf. Nur einige wenige weiße Büschel, die ihr an der Seite herunterhängen. Ihre Haut ist von dunklen Adern durchzogen. Die andere Person könnte ein Mann sein, vielleicht ist es aber auch nur ein großer ausgemergelter Vogel ohne Federn, zusammengeschrumpft und so mager, dass sich die Knochen unter der Haut deutlich abzeichnen.
Gekrümmt stehen sie da, in ihren schwarzen Gewändern, die wirken, als hätte man sie über die bloßen Knochen gehängt, und glotzen dich an, inspizieren deine Schultern, den Brustkorb, den Unterleib.
Finger mit Knöcheln von der Größe eines Pfirsichkerns, bedeckt
von durchsichtiger Haut, durch die hindurch man das Fleisch erkennen kann, das wie das von toten Hühnern aussieht, tasten deinen fleckigen Bauch ab, als wärst du ein Stück Fleisch im Schlachterladen. Ein knappes Grinsen entblößt schwarze spitze Zähne in einem lippenlosen Mund, der eher wie eine wulstige Schnauze aussieht.
Du versuchst, etwas zu sagen, aber du bekommst kaum Luft. Sie sprechen murmelnd miteinander in einer Sprache, die du nicht verstehst. Mit trällernden, melodiösen Stimmen, die in eigenartigen Tonleitern auf- und absteigen.
Talglichter werden angezündet und an den Wänden aufgestellt.
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