Im Totengarten (German Edition)
aufgerissenen Augen, wie sich hünenhafte Kerle mit leuchtend orangefarbener Haut quer durch den Ring warfen. Am liebsten hätte ich dem jungen Mann erklärt, dass sämtliche Bewegungen genauestens abgesprochen waren und es bei diesen Kämpfen nie Verletzte gab, aber um ihm das Vergnügen nicht zu nehmen, ging ich einfach in mein Schlafzimmer und legte mich aufs Bett.
Während die gespielten Schmerzensschreie aus dem Fernseher an meine Ohren drangen, machte ich die Augen zu, und als ich sie wieder aufschlug, war es stockdunkel. Schuldbewusst, weil ich den ganzen Nachmittag einfach verschlafen hatte, setzte ich mich auf, doch wenigstens mein Kopfschmerz hatte sich gelegt.
Während ich vor meinen Spiegel trat und meine verquollenen Augen sah, mischte sich im Zimmer nebenan Meads dünne Stimme mit einem vertrauten weichen Bariton, und ehe ich auch nur mit Kämmen fertig war, klopfte es schon leise an der Tür.
Alvarez trug einen dunkelgrauen Jogginganzug und sah wie ein Fußballtrainer aus, den es juckte, selbst aufs Feld zu laufen und den Jungs zu zeigen, wie man Tore schoss.
»Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, ein bisschen zu joggen.«
Ich musste ein Lachen unterdrücken. »Du hasst es doch, zu laufen.«
»Ich habe von Joggen gesprochen, nicht von Laufen. Aus deiner gewohnten Raserei wird heute nichts werden, fürchte ich.«
»Trotzdem besser als nichts.«
Die Tür ging wieder zu, und ich zog meine Laufklamotten an. In der freudigen Erwartung, endlich wieder mal der stickigen Hotelluft zu entfliehen, schnürte ich meine Schuhe schneller als gewöhnlich zu, doch als ich aus meinem Zimmer kam, lehnte Alvarez mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand, als warte er schon eine halbe Ewigkeit.
»Fertig?«, fragte er, und ich nickte mit dem Kopf.
»Na, wie war dein Tag?«
»Frag nicht«, stöhnte er. »Ich hatte seit dem frühen Morgen pausenlos zu tun.«
Als wir auf die Straße kamen, lief er, ohne sich auch nur noch einmal nach mir umzudrehen, langsam los, und seine schweren Muskeln spannten sich mit jedem seiner Schritte an. Es sah aus, als teile er sich seine Energie sorgfältig ein, aber selbst wenn er sein Tempo irgendwann erhöhte, könnte ich problemlos mit ihm Schritt halten.
Wir brauchten fünf Minuten bis zum Pfad entlang der Themse, und die Winterluft drang kalt in meinen Mund. Ein Schlepper mit rostgelben Seiten kämpfte sich, gefolgt von einer kleineren Barkasse, mühselig den Fluss hinauf, und auf unserem Weg nach Westen Richtung Battersea schaltete Alvarez allmählich einen Gang herauf. Er lief immer noch nicht schnell genug, als dass ich ins Schwitzen geraten wäre, doch sein gleichmäßiges Tempo hielt er wahrscheinlich ewig durch.
Reihen auf dem Höhepunkt des letzten Immobilienbooms eilig hochgezogener hässlicher, moderner, bis zu zwanzigstöckiger Apartmenthäuser ragten vor uns auf, doch allmählich schüttete mein Körper die ersehnten Endorphine aus. Vielleicht kam auch Alvarez sich plötzlich unbesiegbar vor, wie der klügste Mensch der Welt, bereit zu einem Feldzug gegen alles, was nicht seiner Vorstellung entsprach.
Ich sprintete an ihm vorbei und hörte das schwere Trommeln seiner Füße, als er mühsam schneller lief.
»Wollen wir doch mal sehen, aus was für einem Holz du geschnitzt bist«, murmelte ich gutgelaunt.
Wir rannten an der Lambeth Bridge vorbei und sprinteten so lange weiter, bis heftiges Seitenstechen mich zum Stehenbleiben zwang. Alvarez hingegen wirkte noch so munter wie in dem Moment, in dem er losgelaufen war. Der Reichtum des Finanzdistrikts lag inzwischen hinter uns, und jetzt wiesen die Fenster in den unteren Etagen dicke Eisengitter auf, und auf winzigen Balkonen flatterten verblichene Wäschestücke an den kreuz und quer gespannten Plastikleinen im eisigen Wind.
Er legte eine Hand um meine Taille und stieß keuchend aus: »Du bringst mich um. Ich bin zu alt für so etwas.«
»Das glaube ich nicht. Du würdest wahrscheinlich sogar länger durchhalten als ich.«
»Das ist ja wohl ein Witz.« Er atmete inzwischen wieder ruhiger und sah mich aus kohlrabenschwarzen Augen an.
»Na, komm schon her.«
Da er wusste, dass ich mich nicht wehren würde, küsste er mich gierig und mit einer bisher unbekannten Leidenschaft. Dann nahm er meine Hand und zog mich auf eine Steintreppe, die mir noch gar nicht aufgefallen war.
Zu unseren Füßen plätscherte der Fluss. Im Dunkeln sah das Wasser aus wie Öl, in dem sich die Lichter von der anderen Seite
Weitere Kostenlose Bücher